Die Ampel will die Flucht in die SE erschweren. Diese Aufgabe hat der EuGH der Koalition teilweise abgenommen. Was dies für künftige Umwandlungen bedeutet, erklären Patrick Mückl und Boris Blunck.
Die SE ist bei Unternehmen u.a. wegen der mit ihr verbundenen Möglichkeit beliebt, die Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Aufsichts- oder Verwaltungsorgan durch Vereinbarung (sog. Beteiligungsvereinbarung) zu gestalten. Eine Umwandlung einer deutschen AG in eine SE darf allerdings nicht dazu führen, dass die Gewerkschaften weniger an der Zusammensetzung des Aufsichtsrats beteiligt werden, entschied kürzlich der Europäische Gerichtshof (EuGH, Urt. v. 18.10.2022, Az. C-677/20).
Anlass war ein Rechtsstreit der IG Metall und der ver.di gegen die SAP SE (SAP). In der Beteiligungsvereinbarung der SAP ist geregelt, dass die Wahl der Gewerkschaftsvertreter im Aufsichtsrat nicht in einem gesonderten Wahlgang stattfinden sollte. Damit war – anders als nach § 16 Abs. 2 Mitbestimmungsgesetz (MitbestG) – nicht mehr sichergestellt, dass die von den zuständigen Gewerkschaften vorgeschlagenen Vertreter tatsächlich in den Aufsichtsrat gewählt werden.
Schutz der Mitbestimmung bei Umwandlungsgründung der SE
Dies hält der EuGH unter Betonung des "Vorher-Nachher-Prinzips", das der Richtlinie 2001/86/EG über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer SE (SE-RL) immanent ist, für unzulässig. Denn die Regelung soll verhindern, dass bereits vorhandene Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer durch die Gründung einer SE gemindert oder ausgeschlossen werden.
Im Falle der Gründung einer SE durch Umwandlung (Formwechsel) ist dieser Schutz besonders stark ausgeprägt: Gemäß § 21 Abs. 6 SE-Beteiligungsgesetz (SEBG), der Art. 4 Abs. 4 SE-RL wörtlich nachbildet, können bei einer Umwandlungsgründung die bestehenden Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung selbst dann nicht gemindert werden, wenn dies zwischen dem bei der SE-Gründung zu bildenden besonderen Verhandlungsgremium der Arbeitnehmer und der Arbeitgeberseite explizit vereinbart wird.
EuGH: Die Deutungshoheit haben die Mitgliedstaaten
Nach Ansicht des EuGH wurde diese Grenze durch die Aufhebung eines separaten Wahlgangs für die Gewerkschaftsvertreter in der SAP-Beteiligungsvereinbarung überschritten. Denn der separate Wahlgang sei, so entschied es der EuGH, eine maßgebliche Komponente der Mitbestimmung nach deutschem Recht iSd Art. 4 Abs. 4 SE-RL. Was prägendes Element der Mitbestimmung sei, richte sich nämlich allein nach dem jeweiligen mitgliedstaatlichen Mitbestimmungsrecht, so der EuGH.
Als gemeinschaftsrechtliche Beimischung hob das Gericht lediglich hervor, dass die unabdingbare nationale Komponente - im entschiedenen Fall der separate Wahlgang für von der Gewerkschaft vorgeschlagene Vertreter - nicht nur den nationalen Arbeitnehmervertretungen (hier: Gewerkschaften) vorbehalten sein dürfe. Dieses Recht müsse aus Gleichbehandlungsgründen vielmehr allen in der SE, ihren Tochtergesellschaften und Betrieben vertretenen entsprechenden Arbeitnehmervertretungen (hier: Gewerkschaften) zustehen, also auch Organisationen im Ausland.
Diese Weichenstellung kann für in Deutschland durch Umwandlung gegründete SE massive Auswirkungen hinsichtlich des Inhalts der Beteiligungsvereinbarung haben. Denn vor der Entscheidung des EuGH hat die überwiegende Auffassung viele Punkte nicht als prägend bewertet, deren Bedeutung nun gerichtlich überprüft werden könnte. Das betrifft etwa den Arbeitsdirektor (§ 33 MitbestG), die Zusammensetzung der Arbeitnehmerbank für leitende Angestellte (§ 15 Abs. 1 S. 2 MitbestG), das in § 27 Abs. 1 MitbestG geregelte besondere Verfahren für die Wahl des Aufsichtsratsvorsitzenden und seines Stellvertreters, die Regelung zur Bestellung der Mitglieder des zur gesetzlichen Vertretung des Unternehmens befugten Organs und den Widerruf der Bestellung (§ 31 MitbestG).
Denkbar ist, dass diese Punkte nun nach und nach auf ihren zwingenden Charakter überprüft werden.
Konsequenz: SE verliert an Attraktivität
Im Ergebnis wäre damit die Autonomie für den Abschluss einer passgenauen Beteiligungsvereinbarung zumindest bei Umwandlungsgründungen erheblich eingeschränkt. Das dürfte insbesondere Familienunternehmen (immerhin 90% aller deutschen Unternehmen) nachdenken lassen. Für die Gestaltungspraxis hat die EuGH-Entscheidung daher große Relevanz:
Damit rücken für mitbestimmte (insbesondere dem MitbestG unterfallende) Gesellschaften die anderen – allerdings aufwändigeren – Gründungsformen, aber auch Verschmelzungslösungen unter Nutzung einer Vorrats-SE, stärker in den Blick. Sie ermöglichen weiterhin eine höhere Mitbestimmungsautonomie.
Wenn Umwandlungsgründungen erfolgen sollen, ohne an die sich (möglicherweise) aus den deutschen Mitbestimmungsgesetzen ergebenden Komponenten gebunden zu sein, werden diese in der Praxis zeitlich früher – nämlich vor einem entsprechend mitbestimmten Status – stattfinden.
Fernwirkungen für grenzüberschreitende Formwechsel und Spaltungen
Anstatt auf die SE auf einen anderen grenzüberschreitenden Rechtsformwechsel oder eine grenzüberschreitende Spaltung der deutschen Gesellschaft auszuweichen, um die Mitbestimmung zu gestalten, bietet sich nicht an. Das galt aufgrund eines bereits geplanten gesetzgeberisch eingeschränkten Handlungsspielraums schon vor und unabhängig von der Entscheidung des EuGH.
Das Urteil vom 18. Oktober 2022 macht diese Gestaltungen aber noch unattraktiver: Denn auch bei diesen Umwandlungsformen soll - wie bei der SE - die Mitbestimmung primär verhandelt werden. Bei Scheitern der Verhandlungen greift – ebenfalls wie bei der SE – eine gesetzliche Auffanglösung ein. Die dafür in Art. 86l Abs. 3 lit. b) und g) bzw. Art. 160l Abs. 3 lit. b) und g) der RL (EU) 2019/2121 in Bezug auf grenzüberschreitende Formwechsel und Spaltungen vorgesehenen Regelungen verweisen dementsprechend auf die vorgestellten Regeln für die SE.
Die Vereinbarungsautonomie ist also in allen Konstellationen aus Unternehmenssicht gleichermaßen eingeschränkt. Daran wird auch die ausstehende Umsetzung der entsprechenden Richtlinienvorgaben durch den deutschen Gesetzgeber nichts ändern. Das lässt sich aus dem Entwurf der entsprechenden Regelungen, nämlich der §§ 24 Abs. 2, 26 Abs. 1 des Gesetzes über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei grenzüberschreitendem Formwechsel und grenzüberschreitender Spaltung, den das Bundesministerium für Arbeit und Soziales vorgelegt hat, bereits erkennen. In die Entwurfsbegründung hatte das Ministerium bereits aufgenommen, dass die nationalen Komponenten des jeweiligen mitgliedstaatlichen Mitbestimmungsrechts diese auch nach einem Wegzug des Unternehmens in einen anderen Mitgliedstaat prägen müssen.
Pläne der Regierungskoalition
Die Ampel möchte den Rechtsformwechsel in die SE zur "Flucht" vor der deutschen Mitbestimmung ohnehin am liebsten abstellen. Im Koalitionsvertrag (S. 72 f.) haben sich die Regierungsparteien mit Blick auf die grenzüberschreitende Unternehmensmitbestimmung in der SE daher vorgenommen: "Die Bundesregierung wird sich dafür einsetzen, dass die Unternehmensmitbestimmung weiterentwickelt wird, sodass es nicht mehr zur vollständigen Mitbestimmungsvermeidung beim Zuwachs von SE-Gesellschaften kommen kann (Einfriereffekt)."
Den ersten Teil der Aufgabe in Form der Weiterentwicklung hat ihr der EuGH nun teilweise abgenommen. Der zweite Teil, die Beseitigung des Einfriereffekts, wäre nur über eine Gesetzesänderung zu erreichen, die auf europäischer Ebene beschlossen werden müsste.
Ob aber nun diese aktuelle Entwicklung hin zu einem nationalen Verständnis des SE-Mitbestimmungsrechts dem europäischen Charakter der SE gerecht wird und der Rechtssicherheit förderlich ist, darf stark bezweifelt werden. Denn die EuGH-Rechtsprechung beinhaltet die Gefahr einer Überrepräsentation der Gewerkschaften – und damit eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass Unternehmen von der Rechtsform der SE Abstand nehmen. Diese mögliche Entwicklung hatte schon der Generalanwalt im Rahmen seiner Schlussanträge übersehen. Für ein autonomes EU-Recht handelt es sich daher eher um einen Rückschritt als eine Weiterentwicklung.
Der Autor Dr. Patrick Mückl ist Partner und Fachanwalt für Arbeitsrecht in der Praxisgruppe Employment & Pensions der Kanzlei Noerr. Er berät nationale und internationale Investoren und Unternehmen in allen arbeitsrechtlichen Fragen, insbesondere bei (strategischen) arbeitsrechtlichen Re- und Umstrukturierungen.
Der Autor Boris Blunck ist Associated Partner in der Praxisgruppe Employment & Pensions bei Noerr. Neben seiner Beratung zu (strategischen) arbeitsrechtlichen Re- und Umstrukturierungen berät er insbesondere Banken und Versicherer zu regulatorischen Arbeitsrechtsthemen.
EuGH: Stärkung der Gewerkschaftsrechte bei SE-Umwandlung: . In: Legal Tribune Online, 27.10.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49994 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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