Das Geordnete-Rückkehr-Gesetz des ehemaligen Bundesinnenministers Seehofer sollte die Grundlage schaffen, Ausreisepflichtige in normalen Haftanstalten unterzubringen. Der EuGH hat die Kriterien der erforderlichen Notlage konkretisiert.
Das Jahr 2019 war die Zeit nach der überschwänglichen Willkommenskultur. Es war die Zeit, als die Politik mit Sprache wie "Anti-Abschiebe-Industrie" und mit dem so genannten "Geordnete-Rückkehr-Gesetz" des damaligen Bundesinnenministers Horst Seehofer Zeichen gegen Merkels "Wir schaffen das" setzen wollte. Mit dem Geordnete-Rückkehr-Gesetz beschloss der Deutsche Bundestag, dass Abschiebehäftlinge für einen befristeten Zeitraum von drei Jahren auch in normalen Strafvollzugsanstalten untergebracht werden dürfen. Grundsätzlich ist eine getrennte Unterbringung von Abschiebehäftlingen und Strafgefangenen sicherzustellen. Es läge in Deutschland aber eine Notlage iSd 18 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie (2008/115EG) vor, weil nicht genug Abschiebehaftplätze in allen Bundesländern zur Verfügung stünden, hieß es damals, sodass von dem Trennungsgebot abgewichen werden könne.
Ob das tatsächlich so war, muss das nationale Gericht prüfen, urteilte jetzt der Europäische Gerichtshof (EuGH). Falls nicht, sei die Regelung, die laut Gesetz bis Sommer 2022 fortwirken sollte, nicht anzuwenden, entschied das Gericht in Luxemburg (EuGH, Urt. v. 09.03.2021, Az. C-519/20).
Vorgelegt hatte den Fall das Amtsgericht (AG) Hannover. Ein Pakistaner wehrte sich gegen seine Inhaftierung. Der Mann war im Jahr 2015 ohne gültige Papiere in die Bundesrepublik eingereist und hatte unter falschen Namen einen Asylantrag gestellt. Der wurde abgelehnt, die Abschiebungsandrohung wurde vollziehbar. Trotz Aufforderung besorgte der Mann sich jedoch keine neuen Papiere, die aber für die Durchführung einer Abschiebung benötigt werden, sondern tauchte unter.
Typischer Fall für das Seehofer-Gesetz
Derartige Fälle von falschen Angaben, fehlendem Asylgrund und verweigerter Mitwirkung waren es, die mit der Verschärfung der Regeln durch das Geordnete-Rückkehr-Gesetz erfasst werden und über die Feststellung der bestehenden Notlage ermöglichen sollten, diese Menschen in gewöhnlichen Haftanstalten unterzubringen und schnell abzuschieben.
Auch der Pakistaner wurde aufgegriffen und in die für Niedersachsen zentrale Abteilung für Abschiebehäftlinge in der Justizvollzugshaftanstalt (JVA) Langenhagen verbracht. Das Gebäude ist eine mit hohem Maschendrahtzaun umgebene ehemalige Kaserne, die Fenster sind vergittert. Einen jeweils umzäunten Bereich vor den drei Gebäuden, von denen eines teilweise für Strafgefangene genutzt wurde, konnten die Abschiebehäftlinge etwa zwei Stunden täglich nutzen. Die Abteilung wurde von einer im Vollzugsdienst tätigen Beamtin geleitet, operativ verantwortlich auch für diesen Bereich war der Leiter der JVA.
Die Unterbringung dort wäre möglich, wenn entweder generell das Trennungsgebot aus Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Rückführungsrichtline von Abschiebe- und Strafhaft dort noch gewahrt wäre – oder wenn tatsächlich die für eine Ausnahme dieses Grundsatzes erforderliche Notlage vorlag.
Langenhagen kann dem Trennungsgebot genügen
Im Endeffekt entscheiden, ob die konkrete Situation in Langenhagen den Bedingungen genügen, die eine Abschiebehaft dort erlauben, muss das AG Hannover. Der EuGH stellte in seiner Entscheidung aber klar, dass seiner Ansicht nach die Annahme einer speziellen Hafteinrichtung dort iSd Art. 16 Abs. 1 der RiLi durchaus denkbar sei – und widersprach damit der Einschätzung des Generalanwaltes (Schlussanträge Rdnr. 121).
Entscheidend sei, so das Gericht in Luxemburg, dass der Komplex für die Abschiebehäftlinge über eine eigene Ausstattung verfügt und von den übrigen Gebäuden der Einrichtung für die Strafgefangenen getrennt ist. Nur eine bloße räumliche Trennung innerhalb eines Gebäudes reiche nicht aus. Zudem müsste die Unterbringung der Drittstaatsangehörigen so weit wie möglich verhindern, dass sie einer Inhaftierung in einer Gefängnisumgebung gleichkommt.
Früheren Entscheidungen widerspricht der EuGH mit dieser Klarstellung nicht: Er bleibt bei seiner Linie aus dem Urteil des Jahres 2014, das auf Vorlage des Bundesgerichtshofs (BGH) erging. Danach muss die Abschiebehaft in einer speziellen Hafteinrichtung getrennt von Strafgefangenen durchgeführt werden (EuGH, Urt. v. 17.07.2014, Az. C-473/13 u.a.). Nur für Gefährder urteilte der EuGH später, dass in den Fällen eine gemeinsame Unterbringung nicht im Widerspruch zum Europarecht stehe (EuGH, Urt. v. 02.07.2020 Az. C-18/19).
Darüber hinaus macht der EuGH eine weitere Klarstellung, die der Richter in Hannover berücksichtigen wird: Die analoge Anwendung der Regelungen über die Strafvollstreckung auf die Abschiebehaft, wie es in Deutschland praktiziert wird, könne "ein gewichtiges Indiz dafür darstellen, dass eine solche Unterbringung nicht in einer speziellen Hafteinrichtung im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie" stattfinde.
Nationale Gerichte überprüfen die "Notlage"
Die nationalen Gerichte müssen zudem prüfen – und überprüfen dürfen, ob die Bundesländer ggf. von den Grundsätzen zur getrennten Haft die gesetzlich vorgesehenen Ausnahmen machen und die Häftlinge ausnahmsweise zusammen unterbringen dürfen. Dies setze zwangsläufig die Prüfung voraus, ob die Voraussetzungen einer Notlage iSd Art. 18 RiLi vorlagen, stellte der EuGH klar. Nur so könnten die nationalen Gerichte feststellen, ob die Rechte der Drittstaatenangehörigen gewahrt wurden. Denn nur wenn bei gemeinsamer Unterbringung eine Notlage vorlag, wäre diese auch in einer gewöhnlichen Strafanstalt europarechtlich rechtmäßig. Mit behördlichen Einschätzungen dazu muss und darf sich das nationale Gericht bei der Bewertung nicht begnügen, so der EuGH.
Die Voraussetzungen seien eng auszulegen. Die bloße Anwesenheit einer außergewöhnlich großen Zahl von ausreisepflichtigen Drittstaatsangehörigen reiche nicht aus. Denn von diesen könnte ja nur ein Teil überhaupt in Abschiebehaft genommen werden.
Außerdem sei die Regelung auch im Sinne der anderen Übersetzungen der RiLi auszulegen, und diese sprechen in ihren Formulierungen nicht nur wie Deutschland von einer "Überlastung". Andere Mitgliedstaaten haben die RiLi mit einer Qualifikation übersetzt: Sie muss dort "schwer", "bedeutend", "erheblich", "groß" sein. Diese schwere Belastung dürfe auch nicht dadurch entstanden sein, dass der Mitgliedstaat vorher Abschiebehaftplätze abgebaut hat und sie darf auch nicht bloß für einen vorübergehenden Zeitraum innerhalb der festgestellten Notlage bestehen.
Kommen die nationalen Gerichte zu dem Ergebnis, dass keine Notlage vorlag, so dürfen sie auch keine Ausnahme von dem Grundsatz der getrennten Unterbringung machen, so der EuGH, sie dürften das entsprechende Gesetz nicht anwenden – das folge aus dem Vorrang des Unionsrechts.
Was wird der Amtsrichter in Hannover sagen?
Zu der Einschätzung, dass keine Notlage vorlag, kam der Richter am AG Hannover schon in dem Vorlagebeschluss: Ein Notstand habe nicht vorgelegen und sei zumindest nicht auf Drittstaatenangehörige zurückzuführen, hatte der Amtsrichter ausgeführt. Auch die Gesetzesbegründung erhalte keine überzeugende Darstellung einer Notlage, Zahlen zu Auslastungen der Haftanstalten, die erwartete Zahl vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer oder die erwartete Anzahl von Personen, bei denen auch Haftgründe gegeben sein könnten, würden nicht genannt.
Dieses Ergebnis hatte auch der wissenschaftliche Dienst des Bundestages bereits im April 2019 herausgearbeitet, bevor das Geordnete-Rückkehr-Gesetz im Juni beschlossen wurde.
Der Richter am AG Hannover dürfte nach den Vorgaben des EuGH bei seiner Einschätzung zur Notlage bleiben. Ob er aber auch weiterhin meint, dass in Langenhagen eine rechtswidrige gemeinsame Unterbringung vorlag, ist bei den neuen Kriterien des EuGH fraglich.
Der Pakistaner wurde derweil abgeschoben.
EuGH zur Unterbringung bei Abschiebehaft: . In: Legal Tribune Online, 10.03.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47789 (abgerufen am: 19.11.2024 )
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