Wann dürfen öffentliche Stellen Verträge schließen, ohne sie vorher auszuschreiben? Mit zwei wegweisenden Entscheidungen hat der EuGH Rechtsunsicherheiten bei Kooperationen aus dem Weg geräumt, sagt Susanne Mertens.
In vielen Kommunen herrscht Finanznot, und daher kooperieren öffentliche Stellen vielfältig - etwa in den Bereichen Abfall, Abwasser, Energie und ÖPNV. Damit wollen die Kommunen aber nicht nur Kosten einsparen, sondern auch Synergieeffekte erzielen und gemeinsame Kompetenzen stärken. Zunehmend entdecken öffentliche Auftraggeber diese sogenannten öffentlich-öffentlichen Kooperation auch als taugliches Mittel zur Beschleunigung der digitalen Transformation.
Allerdings dürfen öffentliche Stellen Verträge über das Erbringen von Leistungen nicht einfach schließen, ohne diese Leistungen vorher nach den vergaberechtlichen Grundsätzen ausgeschrieben zu haben. Das ist nur dann erlaubt, wenn die Voraussetzungen des Ausnahmetatbestandes des § 108 Abs. 6 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) erfüllt sind. Die Vorschrift setzt Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie 2014/24/EU nahezu wortgleich in nationales Recht um.
Der Ausnahmetatbestand war erst 2014 neu in die Richtlinie 2014/24/EU eingeführt worden und soll die Anforderungen für ausschreibungsfreie öffentlich-öffentliche Kooperationen kodifizieren, die der Gerichtshofder Europäischen Union (EuGH) in verschiedenen Einzelentscheidungen entwickelt hat.Die Grundsätze aus der Rechtsprechung wurden jedoch nicht eins zu einsin den Richtlinientext eingearbeitet. Daraus resultiertenRechtsunsicherheiten – und zwei davon hat der EuGH nun geklärt.
Gefordert ist eine echte Zusammenarbeit
Sowohl Art. 12 Abs. 4 lit. a der Richtlinie 2014/24/EU als auch die insoweit wortgleiche Umsetzung in § 108 Abs. 6 Nr. 1 GWB nennen als eine Voraussetzung für eine ausschreibungsfreie öffentlich-öffentliche Kooperation: Der Vertrag muss eine Zusammenarbeit zwischen den beteiligten öffentlichen Auftraggebern begründen oder erfüllen. Diese Zusammenarbeit muss darauf gerichtet sein, die öffentliche Dienstleistung im Hinblick auf das Erreichen gemeinsamer Ziele auszuführen. Eine gesetzliche Definition dieses zentralen Begriffs fehlt.
Der EuGH hat jetzt klargestellt, dass ein kooperatives Konzept nicht bereits dann vorliegt, wenn ein Kooperationspartner bloß Kosten erstattet (Urt. v. 04.06.2020, Az. C-429/19). Die Zusammenarbeit öffentlicher Stellen müsse vielmehr auf einer gemeinsamen Strategie beruhen und setze voraus, dass die öffentlichen Auftraggeber ihre Anstrengungen zur Erbringung von öffentlichen Dienstleistungen bündeln, so der Gerichtshof.
Zur Begründung verweist der EuGH darauf, dass der Aufbau der Zusammenarbeit eine kollaborative Dimension hatdie- im Gegensatz dazu - bei einem klassischen ausschreibungspflichtigen öffentlichen Auftrag fehlt. Das Ausarbeiten einer Kooperationsvereinbarung setze voraus, dass die öffentlichen Stelleneine gemeinsameHerangehensweise vom Bedarfbis zur Lösung definieren und abbilden.
Müllentsorgung gegen Kostenerstattung ist keine Kooperation
Daran fehlt es im Ausgangsfall:Gegenstand war eine Vereinbarung zwischen einem Abfallzweckverband und einem Landkreis über die Behandlung von Restabfällen. Bestimmte Teile der Entsorgung sollten durch den Vertragspartner erledigt werden -gegen Kostenerstattung. Da ein weitergehendes kollaboratives Konzept nicht ersichtlich war, legte das Oberlandesgericht (OLG) Koblenz die Frage, ob eine solche Gestaltung für das Merkmal der Zusammenarbeit im Sinne der Ausnahme ausreicht, im Wege der Vorabentscheidung vor.
Wird der Ausnahmetatbestand eng ausgelegt, lässt sich so eine Wettbewerbsverzerrung im Verhältnis zu privaten Unternehmen verhindern. Andererseits dürfen die Anforderungen an eine Zusammenarbeit nicht dazu führen, ausschreibungsfreie Kooperationen gänzlich zu verhindern. Gerade dann, wenn der Gegenstand der Zusammenarbeit dazu dient, Fähigkeitslücken zu schließen und unterschiedliches Know-How zu vereinheitlichen, werden die Partner durchaus unterschiedliche Beiträge zur Zusammenarbeit liefern.
Nicht nur der Kernbereich öffentlicher Aufgaben ist erfasst
In einem zweiten Verfahren stellte der EuGH klar, dass eine ausschreibungsfreie öffentlich-öffentliche Kooperation sich nicht unmittelbar auf das Erfüllen einer öffentlichen Aufgabe beziehen muss. Sie kann auch Tätigkeiten umfassen, die lediglich mittelbar dieser Erfüllung dienen (Urt. v. 28.05.2020, Az. C-796/18).
Dem lag ein Vorabentscheidungsersuchen des OLG Düsseldorf zugrunde. Gegenstand waren zwei Verträge, die die Stadt Köln und das Land Berlin geschlossenhatten. Darin wurden die entgeltfreie Überlassung einer Software zur Leitung von Feuerwehreinsätzen sowie eine Zusammenarbeit bei der Weiterentwicklung der Software vereinbart. Diese Verträge sieht der EuGH unproblematisch als vom Ausnahmetatbestand umfasst an. Die Frage, ob die Software, mit der Einsätze der Feuerwehr verfolgt werden können, für die Erfüllung dieser Aufgabe zwingend erforderlich sei, sei nicht maßgeblich, so das Gericht.
Die Entscheidung ist ein klares Bekenntnis zum Institut der öffentlich-öffentlichen Kooperation. Mit Blick auf die Erwägungsgründe der Richtlinie 2014/24/EU soll die Kooperationsmöglichkeit gerade für alle Arten von Tätigkeiten zur Verfügung stehen. UnbotmäßigesAusnutzenwird dadurch vermieden, dass die Tätigkeit einen Zusammenhang zur Aufgabenerbringung haben muss oder ihr dient.Die Tätigkeiten, die der Kooperation unterfallen, müssen dazu dienen, die öffentlichen Dienstleistungen wirksam zu erbringen.
Die Klarstellung des EuGH ist zu begrüßen. Sie eröffnet vergaberechtsfreien Kooperationen öffentlicher Stellen praktikable Anwendungsfelder - -auch in solchen Bereichen, die nicht ihre Kernaufgaben betreffen, wie die Nutzung und gemeinsame Weiterentwicklung von Softwareanwendungen.
EuGH führt neues Tatbestandsmerkmal ein
Der EuGH hat ferner ein neuesungeschriebenes Tatbestandsmerkmal eingeführt, um Wettbewerbsverzerrungen bei der Gestaltung vorzubeugen: Die Kooperation darf nicht dazu genutzt werden, ein privates Unternehmen gegenüber seinen Wettbewerbern zu bevorzugen.Im Ergebnis unterscheidet sich die ausschreibungsfreie Kooperation damit nicht von der Ausnahme der direkten Beauftragung aufgrund technischer oder rechtlicher Alleinstellung.Hier muss der öffentlichen Auftraggeber prüfen, ob keine wettbewerbliche Alternative möglich ist und der mangelnde Wettbewerb nicht das Ergebnis einer künstlichen Einschränkung darstellt.
Die zügigenKlarstellungen des noch relativ jungen Ausnahmetatbestands durch den EuGH waren durch die Vorabentscheidungsverlangen der Vergabesenate aus Düsseldorf und Koblenz möglich. Im Ergebnis werden öffentlich-öffentliche Kooperationen gestärkt. Ihr Anwendungsbereich schließt solche Tätigkeiten ein, die zwar nicht im Kernbereich der öffentlichen Aufgabe liegen, jedoch erforderlich sind, um sie zu erbringen.
Gleichzeitig wird sichergestellt, dass Grenzen eingehalten werden: Eine bloße Leistungsbringung gegen Entgelt genügt nicht für eine Ausnahme von der Ausschreibungspflicht. Besonders wirksam zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen erscheint das Verbot der Besserstellung eines privaten Unternehmens durch die Kooperation.
Höhere Rechtssicherheit für die öffentliche Hand
Ob im Einzelfall eine vergaberechtsfreie öffentlich-öffentliche Kooperation vorliegt, lässt sich nach der neuen Rechtsprechung des EuGH nicht schematisch beantworten.Bei der Gestaltung von Kooperationen werden öffentliche Auftraggeber aber mehr Sicherheit haben, wenn sie in Tätigkeitsbereichen kooperieren, die eben nicht Gegenstand der Kernaufgabe ist. Das ist gut, um gerade auch Bereiche wie die digitale Transformation beschleunigen zu können.
Für die erforderliche gemeinsame Strategiemüssen die öffentlichen Stellen individuelle Kriterien entwickeln und in die Vereinbarung einarbeiten, um die Abgrenzung zur ausschreibungspflichtigen Beauftragung nachzuweisen.
Die Autorin Prof. Dr. Susanne Mertens, LL.M. ist Rechtsanwältin und Partnerin im Bereich Vergaberecht bei Baker McKenzie in Berlin. Sie berät zu komplexen Fragen des öffentlichen Einkaufs und der Kooperation.
EuGH zur Ausnahme von der Ausschreibungspflicht: . In: Legal Tribune Online, 17.06.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41924 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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