Gemeinnützige Organisation oder privater Anbieter? Bei der Beauftragung von Rettungsdiensten geht es um viel Geld. Hendrik Röwekamp zu einem wegweisenden Urteil aus Luxemburg, das eine Menge Streit im deutschen Vergaberecht klären wird.
Die Regelungen über die öffentliche Auftragsvergabe gelten nicht für den Patiententransport im Notfall durch gemeinnützige Organisationen oder Vereinigungen. Das hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) am Donnerstag entschieden (Urt. v. 21.03.2019, Az. C-465/17). Damit haben die Luxemburger Richter einige wichtige Fragen für das (deutsche) Vergaberecht geklärt.
Dieses enthält in § 107 Abs. 1 Nr. 4 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) eine Ausnahme für die Beauftragung von gemeinnützigen Organisationen und Vereinigungen mit bestimmten Dienstleistungen der Gefahrenabwehr. Die Regelung beruht auf Art. 10 lit. h) der Richtlinie über die öffentliche Auftragsvergabe (2014/24/EU), dessen Bedeutung gerade für die Beschaffung von Rettungsdienstleistungen in der Vergabepraxis heftig umstritten ist.
Die Richtlinie gilt nach ihrem Art. 10 lit. h) nicht für Dienstleistungen des Katastrophenschutzes, des Zivilschutzes und der Gefahrenabwehr, die von einer gemeinnützigen Organisation oder Vereinigung erbracht werden und bestimmten Referenznummern des Common Procurement Vocabulary unterfallen (mit Ausnahme des Einsatzes von Krankenwagen zur Patientenbeförderung). Ist der Artikel einschlägig, muss nicht nach den Regeln der Richtlinie (europaweit) ausgeschrieben werden.
Der Haken: Diese Regelung wurde vom deutschen Gesetzgeber wörtlich in § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB umgesetzt - allerdings noch um einen Halbsatz ergänzt. Danach sollen dem Begriff der gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigung insbesondere die Hilfsorganisationen unterfallen, die nach dem Bundes- und Landesrecht als Zivil- und Katastrophenschutzorganisationen anerkannt sind. Ob die Richtlinie angewandt werden muss oder nicht, hängt maßgeblich davon ab, wie genau die Begriffe "Gefahrenabwehr" und "gemeinnützige Organisationen und Vereinigungen" in der Richtlinienbestimmung und damit auch der deutschen Regelung zu verstehen sind.
Der Streit entbrennt in Solingen
Im März 2016 beschloss die Stadt Solingen, ihre Rettungsdienstleistungen für die Dauer von fünf Jahren neu zu vergeben. Sie unterschied dabei zwischen der Notfallrettung (Los 1) und dem Krankentransport mit medizinischer Betreuung und Versorgung der Patienten durch Rettungssanitäter mit Unterstützung von Rettungsassistenten* (Los 2; sogenannter qualifizierter Krankentransport). Die Stadt Solingen forderte vier Hilfsorganisationen - den Arbeiter-Samariter-Bund, das Deutsche Rote Kreuz, die Johanniter-Unfallhilfe und den Malteser Hilfsdienst – auf, Angebote abzugeben. Ihre Beschaffungsabsicht machte sie dabei nicht öffentlich im EU-Amtsblatt bekannt.
Letztlich erhielten zwei dieser Organisationen den Zuschlag für je eines der Lose. Daraufhin beanstandeten zwei private Anbieter von Rettungsdienstleistungen, die Falck Rettungsdienste GmbH sowie die dänische Falck A/S, dass die Aufträge ohne transparentes Vergabeverfahren vergeben worden seien. Sie beantragten bei der Vergabekammer Rheinland eine Nachprüfung des Verfahrens mit dem Ziel, die erteilten Aufträge für unwirksam zu erklären und die Stadt Solingen zu verpflichten, die Dienstleistungen bei fortbestehender Beschaffungsabsicht in einem unionsrechtskonformen Vergabeverfahren zu vergeben.
Das Argument der privaten Anbieter: Der Begriff "Gefahrenabwehr" im Sinne des Ausnahmetatbestandes betreffe nur die Abwehr von Gefahren für große Menschenmengen in Extremsituationen. Außerdem seien die Auftragnehmer, die den Zuschlag erhalten haben, nicht als gemeinnützige Organisation oder Vereinigung im Sinne von Art. 10 lit. h) der Richtlinie 2014/14/EU anzusehen.
Die Vergabekammer hat den Nachprüfungsantrag als unzulässig verworfen, weil die in Rede stehenden Rettungsdienstleistungen aufgrund der in § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB geregelten Bereichsausnahme vom Vergaberecht ausgenommen seien. Auf die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde hat das Oberlandesgericht Düsseldorf beschlossen, das Nachprüfungsverfahren auszusetzen und eine Vorabentscheidung des EuGH zu den Voraussetzungen des in Art. 10 lit. h) der Richtlinie 2014/24/EU geregelten Ausnahmetatbestands einzuholen. Konkret bat es die Luxemburger Kollegen um Entscheidung, ob Notfallrettung (Los 1) und qualifizierter Krankentransport (Los 2) unter die Ausnahme fallen und unter welchen Voraussetzungen von einer "gemeinnützigen Organisation oder Vereinigung" im Sinne der Richtlinie gesprochen werden kann.
EuGH: Begriff der Gefahrenabwehr ist weit gefasst
Der EuGH folgt in seiner am Donnerstag verkündeten Entscheidung dem Votum des Generalanwalts M. Campus Sánchez-Bordona in dessen Schlussanträgen vom 14. November 2018. Er kommt danach zu dem Ergebnis, dass der in Art. 10 lit. h) der Richtlinie 2014/24/EU verwandte Begriff der Gefahrenabwehr nicht nur Gefahren für die Allgemeinheit (Großschadensereignisse), sondern auch Gefahren für Einzelpersonen (individuelle Notlagen) erfasst.
Daher sei der Transport sowie die Betreuung und Versorgung von Notfallpatienten in einem Rettungswagen durch einen Rettungssanitäter oder -assistenten* (Notfallrettung) vom Anwendungsbereich der Richtlinie 2014/24/EU ausgenommen , sofern diese Dienstleistung von einer gemeinnützigen Organisation oder Vereinigung im Sinne der Ausnahmeregelung erbracht wird. Für den qualifizierten Krankentransport gelte dies indes nur dann, wenn er tatsächlich von ordnungsgemäß in erster Hilfe geschultem Personal durchgeführt werde und einen Patienten betreffe, bei dem objektiv das Risiko bestehe, dass sich sein Gesundheitszustand während des Transports verschlechtert. Zudem unterfallen dem Begriff der "gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen" i.S.d. Art. 10 lit. h) der Richtlinie laut dem EuGH nur solche Einrichtungen, deren Ziel in der Erfüllung sozialer Aufgeben besteht, die nicht erwerbswirtschaftlich sind und die etwaige Gewinne reinvestieren, um ihr Ziel zu erreichen.
Entsprechend stehe die Richtlinie einer nationalen Regelung entgegen, wonach die anerkannten Hilfsorganisationen als gemeinnützige Organisationen oder Vereinigungen gelten, ohne dass die Anerkennung als Hilfsorganisation im nationalen Recht davon abhängt, dass keine Gewinnerzielungsabsicht vorliegt.
Kritik an deutscher Regelung aus Luxemburg
Der EuGH liefert so wichtige Klarstellungen zum Hauptanwendungsbereich der in § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB geregelten Bereichsausnahme. Zugleich kritisiert er - wie zuvor bereits der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen - den in § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB enthaltenen "deutschen Zusatz" zur Definition des Begriff der gemeinnützigen Organisationen und Vereinigungen.
Dieser Zusatz ist auch der Europäischen Kommission ein Dorn im Auge. Diese beanstandete bereits in einem mit Schreiben vom 24. Januar 2019 eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland die vom deutschen Gesetzgeber in § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB vorgenommene Begriffsdefinition. Aus ihrer Sicht hat die Bundesrepublik die EU-Vergaberichtlinie damit nicht richtig umgesetzt. Es ist wohl davon auszugehen, dass diese Definition bei nächster Gelegenheit wieder gestrichen wird, nachdem sich der EuGH nunmehr zum Begriff der gemeinnützigen Organisation geäußert hat.
Nach der klärenden Entscheidung des EuGH wird voraussichtlich aber weiter darüber gestritten werden, ob eine Berufung auf die Bereichsausnahme voraussetzt, dass der Rettungsdienstträger überhaupt nur gemeinnützige Organisation an einem Auswahlverfahren beteiligt. Weiter wird zum Teil die Auffassung vertreten, dass bei Geltung der Bereichsausnahme gleichwohl noch EU-Primärrecht zu beachten sei, wonach auch nicht gemeinnützige Anbieter an einem transparenten Auswahlverfahren zu beteiligen seien. Dies wurde zwar vom Generalanwalt in seinen Schlussanträgen verneint; ob der EuGH diese richtige Einschätzung teilt, geht aus seiner Entscheidung aber leider nicht eindeutig hervor. Bedeutung und Anwendungsbereich von § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB werden jedenfalls weiter streitig bleiben.
*Fachtermini korrigiert am Tag der Veröffentlichung, 17.23 Uhr.
Der Autor Dr. Hendrik Röwekamp ist Fachanwalt für Vergaberecht und Partner bei Kapellmann und Partner Rechtsanwälte mbB in Düsseldorf.
EuGH zum Vergaberecht: . In: Legal Tribune Online, 21.03.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/34515 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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