Europarechtler zum Rechtsstaatsdialog mit Polen: Es geht zäh und auf Umwegen, aber es geht

Interview von Constantin Baron van Lijnden

28.07.2016

2/2: Warum profane Verstöße leichter sanktioniert werden können als gravierende

LTO: Wenn die Kommission sonst der Meinung ist, dass ein Mitgliedstaat gegen EU-Recht verstößt, kann sie nach Art. 258 AEUV ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten, ohne, dass irgendeine Abstimmung nötig wäre. Das geschieht auch jährlich hundertfach; gegen Deutschland läuft z.B. gerade ein solches Verfahren wegen der LKW-Maut. Ist es nicht widersprüchlich, dass solche vergleichsweise profanen Verstöße ohne Weiteres angeklagt und – bei entsprechender Entscheidung des EuGH – mit Sanktionen belegt werden können, wohingegen Sanktionen bei viel gravierenderen Verstößen gegen das Demokratie- oder Rechtsstaatsprinzip faktisch kaum möglich sind?

Giegerich: Das kann man so sehen. Aber das Argument funktioniert auch umgekehrt: Gerade weil der Art. 7 (vermeintliches) Fehlverhalten aus dem Kernbereich nationaler Selbstbestimmung sanktioniert, wollen sich die Mitgliedstaaten dort nur unter besonders hohen Hürden hineinreden lassen. Eine noch weitergehende Regelung als die jetzige wäre nicht konsensfähig gewesen. Ich glaube, sie wäre es auch nicht, wenn heute über eine Neufassung des Artikels 7 abgestimmt würde – neben Polen und Ungarn könnte ich mir z.B. denken, dass auch Frankreich am Einstimmigkeitserfordernis würde festhalten wollen. Auch dort sind in Folge des Notstands bekanntlich seit Monaten diverse rechtsstaatliche Gewährleistungen eingeschränkt.

LTO: Wäre es nicht auch möglich, gegen Polen ein ganz "normales" Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 zu führen? Dieser greift schließlich, wenn ein Mitgliedstaat "gegen seine Verpflichtungen aus den Verträgen verstoßen" hat – dazu zählen doch auch die Verpflichtungen aus Art. 2 EUV?
Giegerich: Das ist eine ganz nette Idee, die auch diskutiert wird. Das Gegenargument lautet, dass das Verfahren nach Art. 7 für Verstöße gegen Art. 2 die speziellere Norm darstellt und ein Vorgehen nach Art. 258 somit ausschließt. Andererseits kann man auch annehmen, dass Art. 7 den Art. 258 nur ergänzt und nicht ersetzt, soweit es um Verstöße gegen Art. 2 geht. Welcher Ansicht des EuGH folgen würde, müsste man einmal ausprobieren – es gibt dafür bislang keinen Präzedenzfall. Es bleibt abzuwarten, ob die Kommission versuchen wird, Art. 258 AEUV zur Durchsetzung des Art. 2 EUV zu operationalisieren.

Auch Ungarns Justizreform kam auf Umwegen vor die Gerichte

LTO: Gibt es von dieser Möglichkeit abgesehen noch weitere Maßnahmen, die die Kommission ergreifen kann?

Giegerich: Allenfalls punktuelle. Es kann natürlich sein, dass einzelne Maßnahmen der polnischen Regierung nicht nur das Rechtsstaatsgebot aus Art. 2 verletzen, sondern darüber hinaus auch noch konkrete europäische Grundfreiheiten. Dagegen lässt sich dann auf jeden Fall ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 führen. In Ungarn war das z.B. vor einigen Jahren der Fall: Orban hatte damals per Gesetz das Rentenalter für Richter von 70 auf 62 verringert und die freiwerdenden Stellen mit systemtreuen Kandidaten besetzt. Das war in der Sache natürlich ein rechtsstaatliches Problem, aber die Kommission hat ein Vertragsverletzungsverfahren wegen Altersdiskriminierung eingeleitet und 2012 vom EuGH Recht bekommen. Das ist ein wenig so, wie wenn Sie Al Capone wegen Steuerhinterziehung drankriegen – aber immerhin: es hat funktioniert.

LTO: Könnte neben dem EuGH auch der EGMR tätig werden?

Giegerich: Auch das ist denkbar, und auch hier liefert Ungarn die Blaupause: Das Land ist 2014 vom EGMR verurteilt worden, weil es András Baka, den Präsidenten des obersten ungarischen Gerichtshofs, unter offenkundig fadenscheinigen Gründen entlassen hatte, nachdem dieser zuvor Kritik an der ungarischen Justizreform und insbesondere der Senkung des Renteneintrittsalters geäußert hatte. Die Große Kammer des EGMR hat diese Entlassung erst vergangenen Monat gerügt. Der EGMR sah in dem Vorgehen Ungarns u.a. eine Verletzung von Bakas Recht auf Meinungsfreiheit. Auch das trifft natürlich nicht den Kern des Problems.

Prof. Dr. Thomas Giegerich ist Inhaber des Lehrstuhls für Europarecht, Völkerrecht und Öffentliches Recht und des Jean-Monne-Lehrstuhls für Europarecht und Europäische Integration an der Universität des Saarlandes. Einer seiner Forschungsschwerpunkte liegt im Verhältnis von nationalem und europäischem Verfassungsrecht.

Das Interview führte Constantin Baron van Lijnden.

Zitiervorschlag

Constantin Baron van Lijnden, Europarechtler zum Rechtsstaatsdialog mit Polen: . In: Legal Tribune Online, 28.07.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/20137 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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