Mit drei aktuellen Urteilen hat der EuGH das sogenannte einstufige Vertragsverletzungsverfahren scharf geschaltet. Das erhöht den Druck auf die Mitgliedstaaten deutlich, Richtlinien fristgemäß umzusetzen, zeigt Albrecht Wendenburg.
Das einstufige Vertragsverletzungsverfahren ist in Art. 260 Abs. 3 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) geregelt. Es geht dabei formal um solche Fälle, in denen die Mitgliedstaaten es unterlassen, die Kommission über die erfolgte Richtlinienumsetzung zu unterrichten. Wichtig: Es geht darin nicht um die Frage nach der materiell richtigen Richtlinienumsetzung. Diese wird weiterhin im herkömmlichen zweistufigen Vertragsverletzungsverfahren geklärt (Art. 260 Abs. 1, 2 AEUV), das zunächst in ein bloßes Feststellungsurteil mündet.
Zwei zentrale Unterschiede beider Verfahren stechen damit ins Auge:
Erstens gibt es im einstufigen Vertragsverletzungsverfahren nur ein administratives Verfahren und ein Gerichtsverfahren, was in Verbindung mit einer deutlich strafferen Verfahrensführung der Kommission dazu führt, dass das Sanktionsurteil deutlich früher ergeht: Circa 26 Monate nach Ablauf der Umsetzungsfrist und damit schätzungsweise drei Jahre früher als das Sanktionsurteil beim zweistufigen Vertragsverletzungsverfahren.
Der zweite wichtige Unterschied ist, dass beim einstufigen Vertragsverletzungsverfahren schon der Zeitraum ab Ablauf der Umsetzungsfrist sanktioniert werden kann. Demgegenüber kann beim zweistufigen Vertragsverletzungsverfahren erst der Zeitraum ab Verkündung des Feststellungsurteils durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) bestraft werden. Das hat praktisch eine zusätzliche, ungeschriebene Umsetzungsfrist von mindestens zweieinhalb Jahren zur Folge. Auch diese zusätzliche Frist entfällt beim einstufigen Vertragsverletzungsverfahren.
Seit Mitte 2019 hat der EuGH (Große Kammer) in drei Urteilen zunächst Zwangsgelder und sodann Pauschalbeträge im einstufigen Vertragsverletzungsverfahren verhängt. Zwangsgelder betreffen den Zeitraum nach Urteilsverkündung durch tägliche Sanktionen bis zur Abstellung der Vertragsverletzung; Pauschalen sanktionieren hingegen den Zeitraum vor Urteilsverkündung.
Fall Belgien: Umsetzungsmitteilungen müssen "artikelscharf" sein
Das Pionierurteil traf Belgien (Rs. C-543/17). Es hatte die Richtlinie 2014/61/EU (Ausbau von Hochgeschwindigkeitsnetzen) nicht fristgerecht umgesetzt. Der EuGH legte fest, dass die Umsetzungsmitteilung artikelscharf zu erfolgen hat und das gesamte Territorium des Mitgliedstaats erfassen muss. Teilumsetzungen einer Richtlinie reichen also nicht aus, um Sanktionen abzuwenden. Der EuGH empfahl den Mitgliedstaaten deshalb die Verwendung einer Konkordanztabelle. In einer solchen Tabelle müssten für jede umsetzende Bestimmung der Richtlinie ein einsprechender nationaler Umsetzungsakt aufgezeigt werden.
Mit diesem Leiturteil etablierte der EuGH zugleich ein bewegliches System: Je detaillierter die Mitgliedstaaten die Umsetzung melden, desto höher sind die Anforderungen für ein einstufiges Vertragsverletzungsverfahren. Mit anderen Worten: Gibt sich ein Mitgliedstaat von Anfang an Mühe, steigen seine Chancen, nicht sofort mit einem Strafantrag konfrontiert zu werden.
Am Ende ging es im Fall Belgien nur noch um die Umsetzung für die Region Brüssel-Hauptstadt. Zuvor, als es noch um das gesamten Territorium Belgiens ging, hatte die Kommission einen hohen Schwerekoeffizienten i.H.v. neun (die Skala reicht von eins bis 20) angelegt. Auf dieser Grundlage wären auch empfindlichere Zwangsgelder möglich gewesen.
Der Schwerekoeffizient bestimmt gemeinsam mit einem Dauerkoeffizienten*, wie hoch die Sanktionen für die einzelnen Mitgliedstaaten ausfallen können. Zum Vergleich: Nach der heute gültigen Methodik der Kommission kommen für Deutschland bei einem Schwerekoeffizienten von neun (je nach Höhe des Dauerkoeffizienten) Zwangsgelder zwischen 129.563,28 und 388.689,84 Euro infrage - pro Tag nach Urteilsverkündung!
Fälle Rumänien und Irland: Kommission verschärft Verfahren
In den zwei parallel betriebenen Verfahren gegen Rumänien (Rs. C-549/18) und Irland (Rs. C-550/18) ging es um die Umsetzung der Vierten Geldwäsche-Richtlinie (EU) 2015/849. Beide Mitgliedstaaten setzten die Richtlinie noch während des Gerichtsverfahrens um, was die Kommission aber – entsprechend einer 2016 angekündigten Verfahrensverschärfung – nicht zur Klagerücknahme veranlasste. Vielmehr hielt die Kommission an der Klage fest und beantragte weiterhin die Verhängung eines Pauschalbetrags, um den zuvor eingetretenen Umsetzungsverzug zu ahnden. Dem entsprach der EuGH weitgehend.
Auffällig ist die sehr straffe Verfahrensführung durch die Kommission, die ihrem ausgerufenen Ziel näherkommt, innerhalb von nur zwölf Monaten nach Ablauf der Umsetzungsfrist Klage zu erheben. Mit der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens müssen die Mitgliedstaaten nun bereits innerhalb weniger Wochen nach Ablauf der Umsetzungsfrist rechnen.
Wie schon beim Zwangsgeld legte der EuGH auch beim Pauschalbetrag einen relativ hohen Schwerekoeffizienten i.H.v. acht (ebenfalls auf einer Skala von eins bis 20) zugrunde. Diese Bewertung lässt sich auf eine Standardkonstellation ohne Verfahrensverzögerungen übertragen, in der zwischen Ablauf der Umsetzungsfrist und dem Urteil im einstufigen Vertragsverletzungsverfahren ca. 775 Tage liegen. Wieder der Vergleich zu Deutschland: Der Bundesrepublik würde in so einem Fall bereits die Zahlung eines Pauschalbetrags i.H.v. 29.761.116 Euro drohen, also deutlich mehr als der sog. Mindestpauschalbetrag von 11.915.000 Euro.
Dass die Kommission bei der Sanktionshöhe allerdings nicht zwischen ein- und zweistufigem Vertragsverletzungsverfahren differenziert, verdient angesichts der unterschiedlichen Natur der zugrundeliegenden Vertragsverletzungen indes Kritik. Denn beim einstufigen Vertragsverletzungsverfahren geht es nicht nur regelmäßig um einen vergleichsweise geringeren Verstoß. Die Gleichsetzung übersieht zudem, dass nur beim zweistufigen Vertragsverletzungsverfahren ein doppelter Verstoß geahndet wird: Ein Verstoß gegen das Unionsrecht und ein Verstoß gegen das vorangegangene Feststellungsurteil. An letzterem fehlt es aber beim einstufigen Vertragsverletzungsverfahren gerade.
Worauf die Mitgliedstaaten jetzt achten sollten
Die Mitgliedstaaten haben mit Art. 260 Abs. 3 AEUV ein Instrument geschaffen, das sich nun gegen sie wendet, wenn sie die von ihnen selbst im Rat der EU mitverantworteten Umsetzungsfristen nicht einhalten.
Dieses Eigentor können die Mitgliedstaaten vermeiden, wenn sie sich im Rahmen der Rechtssetzung im Rat der EU für realistischere Umsetzungsfristen einsetzen. Die derzeit oft favorisierte Umsetzungsfrist von zwei Jahren ist in vielen Fällen offensichtlich zu kurz. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die Richtlinie innerhalb eines Mitgliedstaats gestuft umzusetzen ist (etwa in Deutschland zunächst auf Bundes- und sodann auf Ebene der Bundesländer). Zudem sollten die Mitgliedstaaten mit Blick auf das einstufige Vertragsverletzungsverfahren nun wesentlich stärker darauf achten, die Umsetzungsfristen für Richtlinien einzuhalten und die Umsetzung fristgerecht der Kommission zu melden. Diese Meldung muss artikelscharf sein und das gesamte Territorium des Mitgliedstaats erfassen.
Gelingt das alles den Mitgliedstaaten absehbar nicht, können sie zumindest versuchen, die Umsetzung ins nationale Recht innerhalb von zwölf Monaten nach Ablauf der Umsetzungsfrist vollständig abzuschließen und zu melden, um so eine Klageerhebung durch die Kommission zu verhindern. Durch Teilumsetzungen können sie das Sanktionsrisiko zumindest der Höhe nach reduzieren.
Zumindest aber sollte die Richtlinienumsetzung während des Gerichtsverfahrens erfolgen. Damit können die Mitgliedstaaten immerhin Zwangsgelder vermeiden. Pauschalbeträge sind dann allerdings unvermeidbar, wenn die Kommission sie beantragt.
Verhängt der EuGH bald Zwangsgeld und Pauschalbetrag gleichzeitig?
Nachdem nun Entscheidungen sowohl zum Zwangsgeld als nun auch zum Pauschalbetrag im einstufigen Vertragsverletzungsverfahren vorliegen, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis der EuGH einen Antrag auf kumulative Verhängung beider Sanktionen entscheiden muss.
Das widerspricht zwar dem Wortlaut von Art. 260 Abs. 3 AEUV ("Pauschalbetrag(s) oder Zwangsgeld(s)"). Nachdem dieser Wortlaut den EuGH aber schon bei der gleichlautenden Vorschrift zum zweistufigen Vertragsverletzungsverfahren nicht gestört hat, dürfte die Kumulation auch beim einstufigen Verfahren gebilligt werden. Entsprechende Verfahren sind bereits gegen Slowenien (Rs. C-628/18) und Spanien (Rs. C-658/19) rechtshängig.
Dr. Albrecht Wendenburg, LL.M. ist Referatsleiter Europarecht im Niedersächsischen Europaministerium und Lehrbeauftragter im Europarecht an der Leuphana University, Lüneburg. Der Beitrag, der in ausführlicherer Darstellung auf Englisch bei EU LawLife erschienen ist, spiegelt ausschließlich die persönliche Auffassung des Verfassers wider.
*Anm. d. Red.: Kleine inhaltliche Änderung am 06.10.2020, 11:17 Uhr (pl)
Das einstufige Vertragsverletzungsverfahren: . In: Legal Tribune Online, 05.10.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42986 (abgerufen am: 01.11.2024 )
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