Resilienzpläne für das BVerfG: Wer will schon mit Ansage schei­tern?

von Dr. Matthias K. Klatt

31.07.2024

Das BVerfG soll stärker vor rechtsstaatfeindlicher Aushöhlung geschützt werden. Neue Richter sollen notfalls mit einem Ersatzmechanismus gewählt werden. Warum das nichts Gutes für die Kandidaten bedeuten könnte, zeigt Matthias K. Klatt.

Eine breite politische Allianz aus SPD, Grünen, FDP und CDU/CSU hat in dieser Woche gemeinsam einen ersten Fahrplan vorgestellt, wie die Resilienz des Bundesverfassungsgerichts auch in schwierigen politischen Zeiten gesichert werden soll. Der Vorschlag beabsichtigt zahlreiche einzelne Neuregelungen im Grundgesetz, über die bereits breit berichtet worden ist.  

Im Folgenden soll ein Schlaglicht auf zwei Unsicherheiten geworfen werden, die noch nicht thematisiert worden sind und eine verstärkte Aufmerksamkeit verdienen.  

Wer entscheidet, dass eine Ersatzwahl stattfindet

Um eine Blockade der Wahl neuer Verfassungsrichterinnen oder -richter zu verhindern, soll ein neuer Ersatzwahlmechanismus vorgesehen werden. Dazu soll im Grundgesetz (GG) eine Öffnungsklausel und entsprechend im Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) ein neuer Absatz 5 in § 7a BVerfGG eingefügt werden, wie LTO berichtete: "Hat das zuständige Wahlorgan innerhalb von drei Monaten, nachdem ihm das Bundesverfassungsgericht einen Wahlvorschlag gemacht hat, keinen Nachfolger gewählt, kann sein Wahlrecht auch vom anderen Wahlorgan ausgeübt werden".  

Kommt es also etwa im Bundestag – was vor allem befürchtet wird – nicht zu einer Einigung auf eine Richterperson, kann das Wahlrecht von einem anderen Wahlorgan (also dem Bundesrat) ausgeübt werden. Auffällig ist zunächst, dass die Übernahme des Wahlrechts in das Ermessen der Organe gestellt wird ("kann"). Die Frage bleibt also: Wer trifft diese Entscheidung eigentlich? Kann der Bundesrat in der hier zugrunde gelegten beispielhaften Konstellation ohne Weiteres nach drei Monaten das Wahlrecht an sich ziehen oder bedarf es eines Delegationsaktes des Bundestages?  

Sofern es dazu eines Beschlusses bedürfte, stellte sich die Frage, welches Mehrheitserfordernis für einen solchen gelten würden. Konsequenterweise müsste dies die einfache Mehrheit sein, um die Blockade überhaupt umgehen zu können. Ausgeschlossen werden sollte dabei aber wiederum, dass diese Delegation auf das andere Organ nicht stattfinden kann, bevor ein Versuch im Bundestag, sich auf einen Kandidaten zu einigen, gescheitert ist. Denn ansonsten könnte es attraktiv sein, aufgrund einer ohnehin nicht absehbaren Mehrheit im Bundestag diesen mühevollen Weg zu umgehen und sofort das Wahlrecht auf den Bundesrat zu übertragen. Dies wäre mit der grundsätzlich gleichberechtigten Aufteilung der Richterwahl zwischen Bundestag und Bundesrat (vgl. Art. 94 Abs. 1 Satz 2) nicht zu vereinbaren, weil am Ende so der Bundesrat faktisch zum allein zuständigen Wahlorgan werden würde.

Wer will bei absehbar blockierter Wahl noch Kandidat werden?

Auch in Bezug auf die zu wählenden Kandidaten bleibt eine – weniger rechtliche, denn politische – Frage noch ungeklärt. Fällt ein Kandidat, auf den sich im Vorfeld nach den bekannten Absprachemechanismen verständigt wurde, aufgrund einer politischen Blockade im Bundestag "durch", stellt sich die Frage, ob der Bundesrat nunmehr auf denselben Kandidaten zurückgreift oder für diesen Fall eigene parat hält. Gegen die "Übernahme" einer im ersten Organ nicht gewählten Kandidatin spricht, dass diese nach einer derartigen politischen Hängepartie stark beschädigt sein dürfte. Sie konnte sich mehrheitlich eben nicht durchsetzen.  

Dass dies eher mit der politischen Gesamtsituation und dem Konflikt zwischen Bundestagsfraktionen insgesamt zusammenhängen wird und weniger mit der nominierten Person selbst zu tun hat, vermag daran nur wenig zu ändern. Denn die Wirkung trifft unmittelbar sie; sie hat die demokratische Legitimation durch ein Verfassungsorgan nicht erreichen können und soll nun "hilfsweise" die eines anderen erhalten. Nicht nur für die Legitimation dieser Richterwahl, auch für die betroffene Kandidatin selbst, dürfte diese Hängepartie mit einer großen Belastung verbunden und daher wenig attraktiv sein.  

Vor diesem Hintergrund könnte es sich anbieten, dass der Bundesrat einen eigenen Kandidaten vorschlägt, wenn er als Ersatzorgan zum Zuge kommt. Es würde ein gänzlich neuer, unbelasteter Anlauf genommen, ohne dass der betroffene Kandidat bereits vorher in die Zange politischer Fraktionen gelangt ist. Dies wiederum wirft aber die Frage auf, wer sich in dem zuerst zuständigen Organ dann überhaupt zur Wahl stellen möchte. Denn eine Blockade durch eine Sperrminorität dürfte nicht überraschend, sondern vielmehr im Vorhinein absehbar sein. Entscheiden sich die politischen Entscheidungsträger in dieser Situation gar dafür, nur den zweitbesten Kandidaten ins Rennen zu schicken, und sich den Wunschkandidaten für das zweite, nicht blockierte, Organ "aufzuheben"?  

Und damit zusammenhängend: Sofern in beiden Wahlorganen unterschiedliche Kandidaten nominiert werden, könnten auch nicht radikale Parteien geneigt sein, die Blockade im zuerst zuständigen Organ hinzunehmen, um im sodann zuständigen Organ (je nach Mehrheitsverhältnissen) einen von ihr präferierten Kandidaten besser durchsetzen zu können. Im Grunde gibt es also nur zwei schlechte Optionen.  

Diese (und andere) Probleme kauft man sich ein, wenn man Sicherungsmaßnahmen des Bundesverfassungsgerichts vornimmt. Dies macht den Vorschlag nicht zu einer schlechten Lösung, sondern soll den Blick darauf richten, dass mit einer gesetzlichen Resilienzoffensive die Herausforderungen in Zukunft sicherlich nicht enden, sondern sich bei anderen Fragen oder auf anderen Wegen Bahn brechen werden.  

Wie weit reicht die Bindungswirkung?

Zudem soll auch die Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidung ausdrücklich in das Grundgesetz aufgenommen werden. Bisher ist diese in § 31 BVerfGG geregelt und statuiert eine Bindung der Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie aller Gerichte und Behörden.  

Offen ist bislang, ob mit dieser Inkorporation auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit in das Grundgesetz "herüberwandert", nach der nicht nur dem Tenor, sondern ebenfalls den tragenden Gründen einer Entscheidung eine Bindungswirkung zukommen soll. Tragende Gründe sind nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jene Rechtssätze, die nicht hinweggedacht werden können, ohne dass das konkrete Entscheidungsergebnis nach dem in der Entscheidung zum Ausdruck gekommenen Gedankengang entfällt. Nicht tragend sind dagegen bei Gelegenheit der Entscheidung gemachte Rechtsausführungen, die außerhalb des Begründungszusammenhangs stehen. Bei der Beurteilung, ob ein tragender Grund vorliegt, ist von der niedergelegten Begründung in ihrem objektiven Gehalt auszugehen (BVerfGE 115, 97, 110). Diese Formel ist in der Rechtswissenschaft oft und breit kritisiert worden, insbesondere hinsichtlich der damit einhergehenden Abgrenzungsschwierigkeiten (was ist also nun eine lediglich bei Gelegenheit einer Entscheidung gemachte Rechtsausführung?).  

Gleich wie man zu dieser Rechtsprechung steht, gilt es doch erst einmal die Beobachtung festzuhalten, dass sich diese gerichtliche Auslegung der Bindungswirkung bald mit Verfassungsrang ausgestattet sehen könnte. Das Gericht müsste dies, stellte der Gesetzgeber etwa klar, dass seine verfassungsrechtliche Lösung in diese Richtung gemeint ist, als Adelung einer lang bestehenden Rechtsprechung erkennen.  Jedenfalls für die Praxis der Umsetzung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen sollte der Gesetzgeber sich und anderen staatlichen Organen den Gefallen tun, hierzu in der neuen Regelung eine Klarstellung zu treffen.

Detailarbeit wartet noch im Gesetzgebungsverfahren

Der Gesetzgeber könnte sich zu diesem Aspekt der Bindungswirkung auch überhaupt nicht verhalten – es wäre aber auch dann kaum zu erwarten, dass das Bundesverfassungsgericht sich sodann in Zukunft dazu genötigt sähe, seine Rechtsprechung lediglich deshalb zu ändern, weil § 31 BVerfGG nun auf die Ebene der Verfassung gehoben wurde.  

Denn das Gericht hat auch bisher § 31 BverfGG, wie bereits dargestellt, sehr extensiv ausgelegt, ohne dass dies im Wortlaut angelegt wäre. Warum sollte sich dies bei einer gleichlautenden grundgesetzlichen Norm ändern? Sollte der Gesetzgeber also anstreben, die vom Gericht weit ausgelegt Bindungswirkung zu beschränken, um sie lediglich auf den Tenor zu reduzieren, bedürfte es also auch diesbezüglich einer Klarstellung in der angestrebten Neuregelung.

Die zwei in den Blick genommenen Aspekte zeigen: Die Aufwertung bestimmter Strukturprinzipien zugunsten der Resilienz des Bundesverfassungsgerichts ist begrüßenswert. Die konkrete Ausgestaltung der einzelnen Aspekte ist aber noch im Fluss und wirft zahlreiche Folgefragen auf, die sich in unterschiedliche Richtungen mit abweichenden Folgen beantworten lassen. Mit der bisherigen Einigung zwischen den politischen Parteien ist also lediglich ein sehr allgemeiner Grundkonsens erreicht worden. Die schwierige parlamentarische Detailarbeit folgt nun.

Der Autor ist Rechtsanwalt im Bereich Verfassungs- und Verwaltungsrecht bei GvW Graf von Westphalen in Hamburg.  

Zitiervorschlag

Resilienzpläne für das BVerfG: . In: Legal Tribune Online, 31.07.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55115 (abgerufen am: 08.08.2024 )

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