Ermittlungen gegen KZ-Aufseher: Fast 70 Jahre später

von Claudia Kornmeier

18.05.2013

Anfang Mai 2013 verhaftete die Polizei den ehemaligen KZ-Koch Hans Lipschis. Ihm wird Beihilfe zum Mord vorgeworfen. Warum erst jetzt, fragte die ARD-Sendung Kontraste und bewertet es als erschreckendes Versagen, dass die Justiz erst Jahrzehnte später auf die Idee komme, gegen Mittäter zu ermitteln. Die Zentrale Stelle, die für die Vorermittlung von Nazi-Verbrechen zuständig ist, weist diese Kritik von sich.

Die Kapitulation der Wehrmacht ist jetzt 68 Jahre her und noch immer hat Deutschland seine NS-Geschichte nicht vollständig aufgearbeitet. In den Kellern des BMJ wühlen sich die Mitglieder einer Historikerkommission durch alte Personalakten, um die NS-Belastung des Ministeriums während der Anfangsjahre zu erforschen.

In Ludwigsburg schließt die Zentrale Stelle für die Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen immer wieder Vorermittlungsverfahren ab und leitet sie an die zuständigen Staatsanwaltschaften weiter. Anfang Mai kam es zu einer Verhaftung. Es traf den 93-jährige Hans Lipschis, der die SS in Auschwitz-Birkenau von Herbst 1941 bis zur Auflösung des Lagers im Frühjahr 1945 bekocht haben soll. Auf der Liste der zehn meistgesuchten Nazi-Verbrecher des Wiesenthal-Zentrums steht der gebürtige Litauer auf Platz vier. Ihm droht nun eine Anklage wegen Beihilfe zum Mord.

Auch Beihilfe zum Mord verjährt nicht

Früher war Mord nach 20 Jahren nicht mehr verfolgbar. Bei Beihilfe zum Mord waren es sogar nur 15 Jahre nach einer Gesetzesänderung, die 1968 in Kraft trat. Es brauchte vier Anläufe im Parlament, um dies zu ändern. Die sogenannte Verjährungsdebatte ging in die Geschichte des Bundestags ein. Formal stritten die Abgeordneten darüber, ob eine rückwirkende Änderung der Verjährungsfristen gegen Art. 103 Grundgesetz verstoßen würde. Faktisch aber ging es darum, die die damals bevorstehende Verjährung von NS-Verbrechen zu verhindern. Erst seit 1979 unterliegt Mord nicht mehr der Verjährung.

Derzeit arbeitet die Zentrale Stelle eine Liste ab, auf der 49 Personen stehen, die in Auschwitz-Birkenau als Wachleute eingesetzt waren. "Diese Fällen wollen wir in den nächsten drei Monaten abschließen", sagt Thomas Will, stellvertretender Leiter der Zentralen Stelle. "Bevor wir die Fälle an die Staatsanwaltschaften abgeben können, müssen wir prüfen, wer überhaupt noch lebt, während welcher Epoche er in Birkenau war und ob irgendwelche rechtlichen Hindernisse einem Verfahren entgegenstehen."

Schrieb das LG München II mit dem Demjanjuk-Urteil Rechtsgeschichte?

Als Auslöser für die aktuellen Verfahren wird immer wieder das Demjanjuk-Urteil zitiert. Im Mai 2011 verurteilte das Landgericht (LG) München II den Ukrainer zu fünf Jahren Freiheitsstrafe wegen Beihilfe zum Mord in 16 Fällen, obwohl ihm keine konkrete Tat nachgewiesen werden konnte. Dem Gericht genügte seine bloße Anwesenheit als Wachmann während der "Abfertigung" von 16 Transporten im Lager in Sobibor, das ausschließlich der massenhaften Vernichtung von Juden gedient habe. Damit sei jede Tätigkeit als Aufseher eine Förderung dieses Hauptzwecks des Lagers gewesen.

Jeder habe sich mitschuldig gemacht, der in dem Konzentrationslager Sobibor Dienst getan hat, da das Vernichtungslager allein der planmäßigen Ermordung von Menschen diente, so die Münchener Richter (Urt. v. 12.05.2011, Az. 1 Ks 12496/08).

Aber schrieb das bayerische Gericht damit wirklich Rechtsgeschichte? Staatsanwalt Thilo Kurz, derzeit ebenfalls an die Zentrale Stelle abgeordnet, reflektiert in einem aktuellen Aufsatz die Entwicklung der Strafverfolgung des Personals in Vernichtungslagern von den ersten Urteilen in den 60-er Jahren bis hin zum Demjanjuk-Urteil. Er kommt zu dem Ergebnis, dass sich das Urteil des LG München II vielmehr nahtlos einfüge in die vom Bundesgerichtshof (BGH) für die reinen Vernichtungslager nie ausdrücklich aufgegebene Rechtsprechung, nach der diese mit all ihren Abteilungen als arbeitsteiliges Vernichtungswerkzeug zu betrachten sind, so dass grundsätzlich alle Angehörigen der Maschinerie den objektiven Tatbestand der Beihilfe verwirklicht haben.

Zentrale Stelle hält eine Verurteilung Lipschis für möglich

Das sieht auch sein Kollege Thomas Will so, wenngleich er dies nicht als Kritik an seinen Vorgängern verstanden wissen will. "In den 60ern und 70ern wollte die Gesellschaft, dass diese Leute nicht weiter verfolgt werden. Die sollten geschützt werden."

Durch ein anderes Urteil des BGH aus den sechziger Jahren hätten sich die Behörden an weiteren Ermittlungen gehindert gesehen. Der in Auschwitz tätige SS-Lagerarztes Schatz wurde nämlich letztlich freigesprochen. "Auschwitz war eben kein reines Vernichtungslager", so Will. In dieser Entscheidung folgten die Karlsruher Richter auch nicht der Argumentation, dass jedwedes, wie auch immer geartetes Tätigwerden im Rahmen des Vernichtungsprogramms des Konzentrationslagers ausreiche, um eine objektive Beteiligung an den Morden und damit Verantwortlichkeit für alles Geschehene anzunehmen.

Irgendwie hat das Demjanjuk-Urteil dann aber doch den Anlass für die aktuellen Verfahren gegeben. "Es kam die Frage auf, was mit vergleichbaren Fällen ist. Teilweise wurde auch der Vorwurf laut, wir würden nur gegen ausländische Personen ermitteln, nicht gegen Deutsche", erzählt Will. Der Fall Lipschis habe zwar nicht auf der genannten Liste der 49 Aufseher aus Auschwitz-Birkenau gestanden, war nun aber eines der ersten Verfahren zu dem Konzentrationslager, in dem die Zentrale Stelle einen hinreichenden Tatverdacht bejaht hatte. "Wir halten eine Verurteilung für möglich."

Sollte man diese Jahrgänge überhaupt noch verfolgen?

Bereits 1958 richteten die Landesjustizverwaltungen allerdings die Zentrale Stelle in Ludwigsburg ein. Dort sammelt und bündelt seitdem eine Gruppe abgeordneter Richter, Staatsanwälte und Polizisten Erkenntnisse über NS-Verbrechen. Sie wird im Vorfeld staatsanwaltlicher Ermittlungen tätig und leitet ihre Ergebnisse anschließend an die jeweils zuständigen Stellen weiter.

Anlass für die Gründung der Behörde war der "Ulmer Einsatzkommando-Prozess" gegen zehn ehemalige Angehörige des "Einsatzkommandos Tilsit", die wegen Massenerschießungen, insbesondere von Juden, im August 1958 zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden waren. Da sowohl Staatsanwaltschaften als auch Strafgerichte nur für in ihrem Bezirk begangene Straftaten oder dort lebende Täter zuständig sind, konnten die deutschen Behörden die nationalsozialistischen Verbrechen nicht in ihrer Komplexität erfassen. Insbesondere bei Massenverbrechen außerhalb des Bundesgebiets hing es meist vom Zufall ab, ob ein NS-Verbrechen verfolgt wurde.

Derzeit arbeiten noch um die 18 Mitarbeiter in Ludwigsburg. Zur Zeit der größten Arbeitsbelastung zwischen 1967 und 1971, als gleichzeitig mehr als 600 Vorermittlungsverfahren liefen, waren es 121, davon 49 Staatsanwälte und Richter. Von den 7.485 Fällen, die die Zentrale Stelle insgesamt bearbeitet hat, sind fast alle an die zuständigen Staatsanwaltschaften weitergeleitet worden.

Wie lange die Zentrale Stelle insgesamt noch arbeiten wird, ist laut dem Staatsanwalt eine politische Entscheidung. Genauso wie die Frage danach, ob man diese Jahrgänge überhaupt noch verfolgen sollte. "Ich halte es für sehr wichtig, dass die Gesellschaft das diskutiert."

Zitiervorschlag

Claudia Kornmeier, Ermittlungen gegen KZ-Aufseher: . In: Legal Tribune Online, 18.05.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8759 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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