Eine Frage der Wahrheit: Freispruch und Schadensersatz im Fall Kachelmann

von Prof. Dr. Christian Wolf, Hanna Schmitz

19.11.2012

Vor anderthalb Jahren wurde Jörg Kachelmann vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen. Nun verklagt er seine ehemalige Lebensgefährtin vor dem LG Frankfurt auf Schadensersatz. Hat sie gelogen, wenn der Wettermoderator  freigesprochen wurde? Dass die Frankfurter Richter zu einem völlig anderen Ergebnis kommen können, erklären Christian Wolf und Hanna Schmitz.

Als Jörg Kachelmann im Frühjahr letzten Jahres in Mannheim freigesprochen wurde, betonten die Richter, dass ihre Entscheidung auf dem Grundsatz "in dubio pro reo" beruhe. Weder seien sie von der Unschuld des ehemaligen Wettermoderators überzeugt, noch stehe die Unwahrheit der Aussage seiner  Ex-Geliebten Claudia D. fest.

Nun wird das Verfahren vor dem Landgericht (LG) Frankfurt neu aufgerollt, Kachelmann verlangt von der Radiomoderatorin Gutachterkosten aus dem Strafverfahren als Schadensersatz. Wieder geht es um die Frage: Hat es eine Vergewaltigung gegeben oder nicht? Diesmal beurteilt sich anhand dessen, ob Claudia D. in dem Strafverfahren vorsätzlich falsch ausgesagt hat. Gelangt das Gericht zu dieser Überzeugung, wird Kachelmann auch in dem Schadensersatzprozess obsiegen.

Aus Gründen der Prozessökonomie scheint es spontan plausibel, die Überzeugungen der Strafrichter des LG Mannheim auch in dem Schadensersatzprozess heran zuzuziehen. Schließlich waren sie anhand der damals ermittelten Tatsachen nicht davon überzeugt, dass die ehemalige Lebensgefährtin des Schweizers die Unwahrheit gesagt hatte.

Von der formellen und der materiellen Wahrheit

Eine Übertragung der im Strafverfahren erhobenen Tatsachen auf das zivilgerichtliche Verfahren ist aber nicht ohne weiteres möglich.
Zwar verfolgen sowohl Straf- als auch Zivilrichter das Ziel, ein Urteil auf der Basis der wahren Tatsachengrundlage zu erlassen. In dieser Gemeinsamkeit liegt jedoch zugleich einer der wesentlichen Unterschiede der beiden Verfahrensarten. Denn der Wahrheitsbegriff des Strafprozesses ist mit dem Wahrheitsprinzip des Zivilverfahrens nicht identisch.

Im Strafprozess gilt das Prinzip der materiellen Wahrheit. Nach dem dort geltenden Ermittlungsgrundsatz ist das Gericht dazu verpflichtet, den relevanten Sachverhalt vollumfänglich selbst zu ermitteln.

Im Zivilprozess bilden hingegen die Verfahrensgrundsätze der Dispositions- und Verhandlungsmaxime das Fundament für den dort vorherrschenden formellen Wahrheitsbegriff. Den Tatsachenstoff, aufgrund dessen der Sachverhalt ermittelt wird, bringen ausschließlich Parteien bei. Auch die Wahrheit, welche der Richter seiner Entscheidung zugrunde legt, kann er also ausschließlich dem  Vortrag der Prozessbeteiligten entnehmen.

Eine bessere Wahrheit gibt es nicht

Die Ermittlung von Amts wegen im Strafprozess lässt nicht etwa darauf schließen, dass der materielle Wahrheitsbegriff verlässlicher wäre oder das für sich in Anspruch nähme. Er kann keineswegs auf den Zivilprozess übertragen werden.

Im Gegenteil: Durch den Egoismus der Parteien im Zivilprozess, der vom Interesse daran getrieben ist, stets die eigenen Interessen durchzusetzen, korrigieren sich die Aussagen der Parteien oft gegenseitig. So kann der formelle Wahrheitsbegriff häufig sogar besser die objektive Tatsachenlage beschreiben, als dies durch eine staatliche Ermittlung je möglich wäre.

Diese Relevanz des Parteivortrags für die Wahrheitsfindung im Zivilverfahren spiegelt sich auch an anderer Stelle wider. So gilt vor dem Zivilrichter uneingeschränkt die Wahrheitspflicht, während dem Angeklagten im Strafverfahren nicht nur das Schweigerecht zu Gute kommt.

Zitiervorschlag

Eine Frage der Wahrheit: . In: Legal Tribune Online, 19.11.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7574 (abgerufen am: 20.11.2024 )

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