2/2: Verfassungsrechtliche Bedenken sind kein Argument
Das gilt übrigens unabhängig vom Inhalt des Gesetzentwurfs. Die Pflicht des Bun-destags zu Beratung und Beschlussfassung besteht, unabhängig davon, ob der Entwurf im Einklang mit dem Grundgesetz steht, was bei den Gesetzentwürfen zur Ehe für alle umstritten ist. Der Bundestag darf die Beratung und Beschlussfassung nicht verweigern, weil er die Gesetzesvorlagen für verfassungswidrig hält. Fehlende Verfassungskonformität eines Gesetzentwurfs kann zur Ablehnung durch den Bundestag führen. Nicht aber dazu, sich mit dem Gesetzentwurf gar nicht erst zu befassen.
Zeitlich gesehen muss der Bundestag Gesetzesvorlagen "in angemessener Frist" beraten und beschließen. Für Gesetzesvorlagen des Bundesrats regelt das wiederum ausdrücklich Art. 76 Abs. 3 S. 6 GG, die Vorschrift gilt aber für Gesetzesvorlagen aus der Mitte des Bundestags und der Bundesregierung entsprechend.
Welcher Zeitraum für die Beratung und Beschlussfassung angemessen ist, beurteilt sich nach den Umständen des Einzelfalls. Fest steht aber: Eine Vertagung der Beratung und Beschlussfassung einer Gesetzesvorlage auf unbestimmte Zeit verstößt in jedem Fall gegen Art. 76 Abs. 3 S. 6 GG.
Warum der Rechtsausschuss der richtige Antragsgegner ist
Diese Pflicht zur Beratung und Beschlussfassung von Gesetzesvorlagen in angemessener Frist obliegt nicht nur dem Bundestag als Ganzes, sondern auch den von ihm gebildeten Ausschüssen. Das BVerfG erkennt seit jeher an, dass ein wesentlicher Teil der Parlamentsarbeit traditionell außerhalb des Plenums geleistet wird. Der Bundestag darf Ausschüsse einrichten und ihnen einzelne seiner Aufgaben übertragen – etwa die Vorbereitung von Plenumsbeschlüssen.
Bedient er sich so zur Erfüllung seiner Gesetzgebungsaufgabe eines Ausschusses, ist dieser an die (Beratungs- und Beschluss-)Pflichten gebunden, die dem Bundestag verfassungsrechtlich obliegen. Soweit der Bundestag also Ausschüsse mit der Vorberatung und Beschlussempfehlung von Gesetzesvorlagen betraut, müssen diese darüber in angemessener Frist beraten und eine Beschlussempfehlung für das Plenum abgeben. Endgültig beraten oder gar Beschluss fassen dürfen Ausschüsse dagegen nicht. Ein Ausschuss ist immer nur vorbereitendes Beschlussorgan, er kann nie endgültig entscheiden, so das BVerfG.
Diese verfassungsrechtlichen Beratungs- und Beschlusspflichten der Ausschüsse konkretisiert die GOBT. Sie verpflichtet die Ausschüsse zur baldigen Erledigung der ihnen überwiesenen Aufgaben (§ 62 Abs. 1 S. 1 GOBT) und dazu, innerhalb angemessener Pflicht an das Plenum zu berichten und ihm einen Beschluss zu empfehlen (§ 62 Abs. 1 Satz 2 GOBT). Dieser bindenden Rechtspflicht dürfen sich die Ausschüsse nicht entziehen. Sie dürfen, in den Worten des BVerfG, nicht durch Verschleppen von Gesetzesvorlagen "die Beratung und Beschlußfassung durch das Plenum praktisch verhinder(n)".
Eventuelle Unklarheit kann nicht zu Lasten der Grünen gehen
Da somit sowohl dem Bundestag als auch seinen Ausschüssen im Rahmen ihrer Zuständigkeiten verfassungsrechtliche Beratungs- und Beschlusspflichten obliegen, ist im Organstreit das Organ(-teil) passivlegitimiert, dem die betreffende Aufgabe obliegt. Dies gilt ungeachtet dessen, dass Adressat von Gesetzesinitiativen nach Art. 76 Abs. 1 GG der Bundestag als Kollegialorgan ist und ihn die abschließende Beratungs- und Beschlussfassungspflicht trifft.
Daraus folgt: Kommt ein Ausschuss des Bundestags seiner Beratungs- und Beschlussempfehlungspflicht (s. § 62 Abs. 1 GOBT) nicht nach, ist ein Verfassungsorganstreitverfahren gegen ihn zu richten. Tritt dagegen der Bundestag, obwohl der Ausschuss seine Verpflichtungen erfüllt hat, in die Beratung und endgültige Beschlussfassung nicht ein, ist der Bundestag passivlegitimiert im Organstreit.
Im Übrigen gilt: Da bislang höchstrichterlich nicht geklärt ist, ob bei der Verschleppung von Gesetzesvorlagen durch Ausschüsse des Bundestags der Ausschuss oder der Bundestag passivlegitimiert ist, kann diese Ungewissheit nicht zu Lasten des Antragstellers gehen. Selbst wenn die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen ihren Antrag also gegen den falschen Antragsgegner gerichtet hätte, könnte dies nicht zu ihren Lasten gehen.
Im Ergebnis gilt daher: Der federführend mit den Gesetzentwürfen zur Öffnung der Zivilehe für gleichgeschlechtliche Paare betraute Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz war verpflichtet, die Gesetzentwürfe in angemessener Frist zu beraten und dem Bundestag einen Beschluss zu empfehlen. Dieser Verpflichtung ist er nicht nachgekommen. Er hat die Gesetzentwürfe über mehrere Jahre hinweg 27 mal von der Tagesordnung abgesetzt und damit offensichtlich gegen seine Beratungs- und Beschlussempfehlungspflicht verstoßen. Das gilt umso mehr, als nicht erledigte Gesetzesvorlagen mit dem nahenden Ende der Legislaturperiode des 18. Deutschen Bundestags dem dem Demokratieprinzip immanenten Grundsatz der Diskontinuität anheimfallen.
Über den offensichtlich begründeten Antrag kann es daher nur eine Entscheidung geben.
Die Autorin Prof. Dr. Frauke Brosius-Gersdorf ist Inhaberin des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insb. Sozialrecht, Öffentliches Wirtschaftsrecht und Verwaltungswissenschaften an der Juristischen Fakultät der Leibniz Universität Hannover.
Im Ausschuss verschleppt: . In: Legal Tribune Online, 09.06.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23156 (abgerufen am: 07.11.2024 )
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