Das Vorlageverfahren ist beim EuGH schon eine Selbstverständlichkeit, beim EGMR gab es das bisher nicht. Mit der Ratifizierung durch das zehnte Land kann es jetzt losgehen. Die deutschen Bundesgerichte sind vorerst nicht dabei.
Jahr für Jahr klagt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) über zu viel Arbeit. Nun kommt noch eine Aufgabe hinzu – eine Art Vorlageverfahren light. Ab August 2018 können höchste nationale Gerichte die Straßburger Richter um "beratende Gutachten" bitten, wenn sie Zweifel an der Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) haben.
Geregelt ist das neue Instrument im 16. Zusatzprotokoll zur Menschenrechtskonvention. Seit 2013 liegt der Text beim Europarat bereit für die Unterzeichnung und Ratifizierung durch die 47 Mitgliedstaaten. Getan haben beides bisher zehn Länder. Als zehnter Staat ratifizierte Frankreich vergangene Woche das Protokoll. Damit kann das neue Verfahren, das bereits 2005 angestoßen worden war, für die Länder in Kraft treten, die es unterzeichnet haben.
Die Voraussetzungen für eine Vorlage beim EGMR sind eng gefasst: Nur höchsten Gerichten der Mitgliedstaaten ist das neue Vorlagerecht eingeräumt. Welche Gerichte das genau jeweils sind, können die Länder selbst bei der Ratifikation festlegen. In Deutschland würden dies wohl die Bundesgerichte sein.
Zudem muss um eine grundlegende Frage über die Auslegung oder Anwendung der Rechte und Freiheiten gehen, die in der Menschenrechtskonvention und seinen Zusatzprotokollen definiert sind. Die Frage muss sich außerdem in einem anhängigen Fall stellen. Es soll ganz ausdrücklich nicht um abstrakte Prüfungen gehen.
Mehr Stress oder Entlastung?
Aus Sicht des Gerichtshofs sind derartige grundlegende Fragen etwa solche, die für viele Mitgliedstaaten relevant sind oder die in der Vergangenheit in Verfahren vor der Großen Kammer verhandelt worden sind. Als Beispiele nennen die Richter Urteile zum Recht auf einen Verteidiger im Polizeigewahrsam, die Ausweisung eines Asylsuchenden nach Griechenland im Dublin-Verfahren und die Ehe für homosexuelle Paare.
Rein formal werden die Gutachten des Gerichtshofs nicht bindend sein. Über einen Umweg verpflichten sie die Mitgliedstaaten aber doch: Sollte sich das vorlegende nationale Gericht nicht an die Vorgaben des EGMR halten, bleibt betroffenen Bürgern der Weg nach Straßburg offen. Sie können also weiterhin eine Individualbeschwerde einlegen. Eine vorangegangene Vorlage durch das nationale Gericht ändert an diesem Recht nichts. In dem Beschwerdeverfahren ist dann auch das Gutachten Teil des case law, auf das Straßburg seine Entscheidung stützen wird.
Beim Gerichtshof selbst scheint man hin- und hergerissen: Wird es jetzt noch stressiger oder besteht Hoffnung auf Entlastung – zumindest langfristig? Die Haltung des Gerichtshofs selbst zu der neuen Kompetenz schwankt. Aus seinen Stellungnahmen zu Entwürfen des Zusatzprotokolls lässt sich herauslesen: Ja, mehr Dialog mit den nationalen Gerichten, mehr vorab geklärte grundsätzliche Fragen, langfristig gesehen mag das nicht schlecht sein und zu weniger Beschwerden führen. Kurzfristig aber – und darum lässt sich nicht herumreden – kommt erst einmal eine neue Aufgabe hinzu und damit mehr Arbeit.
Die Straßburger Richter kündigen deshalb direkt an: Lehnen sie es ab, die Anfrage eines nationalen Gerichts zu beantworten – was sie prinzipiell machen können – wird die Begründung dafür wohl eher nicht besonders lang ausfallen. Eigentlich wäre den Richtern lieber gewesen, gar keine Begründung liefern zu müssen. Generelle Richtlinien als Antwort an die Kollegen in den Mitgliedstaaten hätten sie bevorzugt – etwa der Hinweis auf eine bereits anhängige Individualbeschwerde zur selben Frage.
Sprache der Anfragen und Antworten
Ein Problem sieht der Gerichtshof auch darin, dass die Anfragen mit einer gewissen Geschwindigkeit beantwortet werden müssen, weil die Verfahren in den Mitgliedstaaten in der Zwischenzeit ausgesetzt werden müssen. Er mahnt deshalb alle Beteiligten zur Kooperation. Nationale Gerichte sollten ihrer Anfragen insbesondere "präzise und vollständig" formulieren. Umgekehrt versprechen die Straßburger Richter, die Vorlagen rasch zu behandeln.
Hinzu kommt das Sprachproblem. Der EGMR arbeitet auf Englisch und Französisch, die große Mehrheit der Gerichte der Unterzeichnerstaaten in einer anderen Sprache. Anfragen dürfen deshalb auch in der Sprache des vorlegenden Gerichts verfasst sein, heißt es in den erklärenden Hinweisen des Europarats zu dem Zusatzprotokoll ("explanatory report"). Das Gutachten des EGMR wird dennoch zunächst in einer der beiden offiziellen Sprachen geschrieben sein. Es muss also übersetzt werden. Aber wer kümmert sich um eine möglichst zügige Übersetzung? Und vor allem: Wer bezahlt das?
Der "explanatory report" bleibt an dieser Stelle schwammig: Der Gerichtshof könne für eine zügige Vorbereitung der Übersetzungen mit den nationalen Behörden "kooperieren". Ganz anders liest sich dagegen die Stellungnahme des Gerichtshofs. Während die Straßburger Richter an einigen Stellen akzeptieren, dass sie ihre Vorstellungen für das neue Verfahren nicht durchsetzen konnten, bleiben sie an diesem Punkt hart: Sie lehnen es strikt ab, auch noch für die Übersetzungen zuständig zu sein. Zu viel Arbeit, zu teuer. Jedenfalls aber sei klar, dass der Gerichtshof die Verantwortung für die Übersetzungen nur übernehmen könne, wenn er dafür die finanziellen Ressourcen bekäme.
Deutschland macht nicht mit
Ratifiziert haben das Zusatzprotokoll neben Frankreich derzeit: Albanien, Armenien, Estland, Finnland, Georgien, Litauen, San Marino, Slowenien und die Ukraine. Nach fünf Jahren haben sich also nur zehn Länder zur Ratifikation durchgerungen. Darunter ist nur eines der Länder, die dem Gerichtshof die meiste Arbeit machen - die Ukraine. Türkei und Rumänien haben das Abkommen nicht ratifiziert, Russland es nicht einmal unterschrieben. Zum aktuellen Selbstverständnis der russischen Justiz würde eine Vorlage an Straßburg wohl auch nicht passen - Moskau hat seinem Verfassungsgericht umgekehrt Ende 2015 per Gesetz zugestanden, die Urteile internationaler Gerichte zu überprüfen.
Es ist deshalb gut, dass das Inkrafttreten des Zusatzprotokolls nicht von einer Ratifikation aller 47 Mitgliedstaaten abhängt. So können die Länder, die wollen, vorangehen und zu einer Verbesserung des Menschenrechtsschutzes beitragen.
Auch Deutschland ist bisher nicht dabei und plant eine Ratifikation nach Angaben des Bundesjustizministeriums derzeit nicht. "Die Bundesregierung prüft noch, ob aus innerstaatlicher Sicht ein Bedarf für die Einführung eines solchen "Vorlageverfahrens" beim EGMR besteht", so eine Sprecherin. Die Bundesregierung möchte zunächst beobachten, wie sich das neue Instrument in der Praxis bewährt. Außerdem habe Deutschland das Bundesverfassungsgericht (BVerfG), das bei seiner Prüfung stets die Garantien der Menschenrechtskonvention einzubeziehen habe.
Es stimmt natürlich, dass Deutschlands Verurteilungsrate niedrig ist, was sicherlich auch dem BVerfG zu verdanken ist. 2017 wurde die Bundesrepublik sieben Mal verurteilt. Eine niedrige Verurteilungsrate hat aber auch Frankreich. Und ein solches Vorlageverfahren ist doch eine Gelegenheit, gemeinsam mit Straßburg an klaren Standards für die Menschenrechte zu arbeiten.
Claudia Kornmeier, Neues Gutachten-Verfahren beim EGMR: . In: Legal Tribune Online, 17.04.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/28083 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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