Willkürliche Inhaftierungen, Folter, Zwangseinbürgerungen von Ukrainern: Seit der russischen Annexion der Krim hat sich die Lage der Menschenrechte dort erheblich verschlechtert. Am Mittwoch verhandelt der EGMR eine Beschwerde der Ukraine.
Die russische Invasion der Ukraine vom 24. Februar 2022 ist nur die Spitze des Eisbergs – der Konflikt zwischen den Regierungen in Moskau und Kiew dauert seit Jahrzehnten an. Seit ihrer Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1991 ist die Ukraine ein eigener Staat. Mit den Jahren haben sich die Ukraine und Russland immer weiter entfremdet und auch innerhalb der Ukraine gibt es Spannungen. Während sich große Teile Richtung Europa orientieren, bekennen sich die prorussischen Separatisten zu Russland. Diese Spannungen entluden sich in den Maidan-Protesten in Kiew im Jahr 2013. Hunderttausende Menschen forderten einen Anschluss an die Europäische Union, die Polizei schlug die Demonstrationen gewaltsam nieder.
Russland, dem die pro-europäische Bewegung ein Dorn im Auge ist, annektierte in der Folge im Februar 2014 die zur Ostukraine gehörende Halbinsel Krim. Seitdem hat sich die Menschenrechtslage dort massiv verschlechtert. "Schwere Menschenrechtsverletzungen wie willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen, Verschwindenlassen, Misshandlung und Folter sowie mindestens eine außergerichtliche Hinrichtung wurden dokumentiert", heißt es in einem Bericht des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte. Bewohner der Krim, die bis zum 18. April 2014 nicht die russische Staatsbürgerschaft beantragt hätten, seien bedroht und eingeschüchtert worden. Tausende Krimtataren seien in andere Teile der Ukraine vertrieben worden. Ukrainische Gesetze wurden durch russische ersetzt, russische Strafgesetze willkürlich angewendet. Am stärksten betroffen waren politische Gegner und Kritiker wie Journalisten und Aktivisten.
Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geht es derzeit um die Frage, inwiefern Russland für diese massiven Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist (Ukraine v. Russia (re Crimea), Beschw.-Nr. 20958/14 and 38334/18). Der Gerichtshof hatte eine Staatenbeschwerde der Ukraine schon Ende des Jahres 2020 für zulässig erklärt. In der Anhörung am Mittwoch werden dann materiell-rechtliche Fragen geklärt.
EGMR: Es geht um Russlands Verhalten nach der Annexion
Die Krim hatte seit 1991 einen Autonomiestatus als "legaler demokratischer Staat innerhalb der Ukraine". Ein Großteil der Bevölkerung ist russischstämmig und spricht Russisch als Muttersprache. Forderungen nach einer endgültigen Abspaltung von der Ukraine gab es immer wieder, diese wurden aber über viele Jahre zurückgewiesen.
Im Jahr 1997 hatten sich Russland und die Ukraine im sogenannten Flottenvertrag über die Aufteilung der ehemals sowjetischen Flotte geeinigt. Demnach durften 388 Schiffe, 161 Fluggeräte und 25.000 Soldaten auf der Krim sein. Überschritten wurde diese Obergrenze bis zur Annexion offenbar nicht, allerdings soll sich die Anzahl der russischen Soldaten von Ende Januar bis Mitte März 2014 fast verdoppelt haben – von etwa 10.000 auf rund 20.000.
Am 27. Februar 2014 sollen über 100 schwer bewaffnete Männer die Gebäude des Obersten Rates und des Ministerrats der Autonomen Republik Krim gestürmt haben. Behördenmitarbeiter sollen gewaltsam verdrängt und durch russische Agenten ersetzt worden sein. Russland erhöhte die Truppenpräsenz und hinderte die Ukraine daran, militärische Verstärkung zu entsenden. In einem "Referendum" am 16. März 2014 haben 95 Prozent der Wähler für einen Beitritt zu Russland gestimmt. Am 18. März 2014 unterzeichneten Russland, die "Republik Krim" und die Stadt Sewastopol den "Einigungsvertrag".
Der EGMR hat ausdrücklich betont, dass er in diesem Verfahren nicht über die Rechtmäßigkeit der Annexion entscheiden muss. Vielmehr wird es um das Verhalten Russlands nach der Annexion gehen.
"Muster von EMRK-Verletzungen"
Die Ukraine wirft Russland ein "Muster von Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)", eine Verwaltungspraxis von Menschenrechtsverletzungen, seit Februar 2014 vor.
Sie macht unter anderem die Verletzung des Rechts auf Leben aus Art. 2 EMRK, des Folterverbots aus Art. 3 EMRK, des Rechts auf Freiheit und Sicherheit aus Art. 5 EMRK, des Rechts auf ein faires Verfahren aus Art. 6 EMRK sowie der Meinungsfreiheit aus Art. 10 EMRK geltend.
Auf der Krim lebende Ukrainer seien zwangseingebürgert, hunderte ukrainische Gefangene illegal nach Russland verbracht und viele davon misshandelt worden, heißt es im Bericht des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte. Die Mejlis, eine Organisation der Krimtartaren, wurde im April 2016 als extremistisch eingestuft und verboten. Unter dem Vorwand der Extremismusbekämpfung sollen die Behörden der Russischen Föderation auf der Krim Hausdurchsuchungen durchgeführt und Mitglieder der krimtatarischen Gemeinschaft eingeschüchtert und festgenommen haben. Unterricht in der ukrainischen Sprache findet kaum noch statt.
Ursprünglich hatte die Ukraine drei Staatenbeschwerden erhoben, nämlich am 13. März 2014, am 27. August 2015 und am 10. August 2018. Die beiden ersten wurden im Jahr 2018 zu einer zusammengefasst (Beschw.-Nr. 20958/14). Am 7. Mai 2018 hat die zuständige Kammer des EGMR die Sache an die Große Kammer überwiesen.
Mit Entscheidung vom 16. Dezember 2020 hat der EGMR die Beschwerden für teilweise zulässig erklärt.
Russland hat "effektive Kontrolle" über die Krim
Er stellte zunächst fest, dass er für die Streitigkeit zuständig ist, denn die Menschen auf der Krim unterstehen Russlands Hoheitsgewalt. Nach Art. 1 EMRK gelten die Verpflichtungen der Staaten aus der EMRK gegenüber "allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen". Grundsätzlich ist staatliche Hoheitsgewalt territorial begrenzt. Allerdings ist anerkannt, dass ein Staat auch dann Hoheitsgewalt ausübt, wenn er die "effektive Kontrolle" über ein fremdes Gebiet ausübt.
Die effektive Kontrolle Russlands über die Krim bestehe seit dem 27. Februar 2014 und nicht erst seit dem "Einigungsvertrag" vom 18. März, so der EGMR. Dies begründete er insbesondere mit der russischen Militärpräsenz auf der Krim, die Russland drastisch ausgebaut hatte, ohne dass es Anhaltspunkte dafür gab, dass die Ukraine damit einverstanden war oder dass es eine Gefahr für die ohnehin auf der Krim stationierten russischen Truppen gegeben habe. Zudem habe Wladimir Putin geäußert, er habe beschlossen, "mit der Arbeit an der Rückkehr der Krim in die Russische Föderation zu beginnen".
Nach Art. 35 EMRK müssen eigentlich erst alle innerstaatlichen Rechtsbehelfe ausgeschöpft werden, bevor man sich an den EGMR wendet. Von diesem Grundsatz gibt es nach der Rechtsprechung des EGMR aber Ausnahmen, unter anderem dann, wenn "eine Verwaltungspraxis besteht, die aus der Wiederholung von mit der Konvention unvereinbaren Handlungen und der offiziellen Duldung durch die staatlichen Behörden besteht und so beschaffen ist, dass sie das Verfahren aussichtslos oder ineffektiv macht" (EGMR, Aksoy v. Türkei).
Beide Voraussetzungen sah der EGMR hier als erfüllt an. Insbesondere nannte er dabei wiederholte Misshandlungen, unrechtmäßige Inhaftierungen, die Unterdrückung der ukrainischen Sprache in Schulen sowie Zwangseinbürgerungen ukrainischer Staatsangehöriger.
Weitere Verfahren gegen Russland
Nachdem die Zulässigkeit dieser Staatenbeschwerde feststeht, wird am Mittwoch über die Begründetheit verhandelt. Dann wird der EGMR zu untersuchen haben, ob Russland die Menschenrechtsverstöße begangen hat – und dafür zur Verantwortung gezogen werden kann.
Zulässigkeitsfragen wird sich der Gerichtshof am Mittwoch aber in einer anderen Sache widmen: Die Ukraine wirft Russland auch die illegale Überstellung von Strafgefangenen aus der Krim in Justizvollzugsanstalten auf russischem Staatsgebiet vor. Darunter war auch der ukrainische Regisseur Oleh Senzow, der im Mai 2014 in Simferopol verhaftet, an Russland überstellt und dort zu 20 Jahren Straflager wegen Terrorismus verurteilt wurde. Im Rahmen eines Gefangenenaustauschs zwischen Russland und der Ukraine wurde Senzow am 7. September 2019 freigelassen und kehrte in die Ukraine zurück. Da Ukraine die Vorwürfe erst später erhoben hat, wurde über die Zulässigkeit noch nicht verhandelt. Eine weitere Staatenbeschwerde betrifft ukrainische politische Gefangene auf der Krim. Der EGMR hat beide Verfahren verbunden.
Derzeit sind vor dem EGMR noch drei weitere Staatenbeschwerden der Ukraine gegen Russland anhängig, nämlich bezüglich der Geschehnisse in der Ostukraine und dem Asowschen Meer sowie Russlands militärischen Operationen auf dem Territorium der Ukraine seit dem 24. Februar 2022. Außerdem liegen weit über 1.400 Individualbeschwerden beim EGMR.
Russland ist zwar seit dem 16. September 2022 kein Mitglied der EMRK mehr, aber der EGMR kann weiterhin über Beschwerden entscheiden, die sich auf Geschehnisse vor diesem Datum beziehen.
EGMR verhandelt zur Lage auf der Krim: . In: Legal Tribune Online, 12.12.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53403 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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