2/2: Auch in Krisenzeiten muss man die Menschenwürde achten
Bei all diesen Ausführungen erläutert der Gerichtshof ausführlich, dass er sich mit der Notsituation in Italien auseinander gesetzt hat. Auch angesichts des Flüchtlingsandrangs nach den Revolutionen in der Zeit des "Arabischen Frühlings" müsse diese Argumentation der Behörden jedoch angesichts des Gewichts der Menschenwürde zurückstehen.
Zwar erkannte Straßburg an, dass es sich um eine außergewöhnliche Situation gehandelt habe, auf die das Land nicht ausreichend vorbereitet gewesen sei. Der Strom an Bootsflüchtlingen aus Nordafrika habe zu massiven logistischen und organisatorischen Problemen geführt und die Kapazitäten Italiens überstiegen. Die dortigen Behörden seien auf einmal mit der Rettung von Bootsflüchtlingen aus dem Mittelmeer belastet gewesen, anschließend habe man sich um die Unterbringung kümmern müssen. Doch insbesondere die bestehenden Lager waren nur für einen Aufenthalt von wenigen Tagen vorgesehen.
Die Situation habe sich auch durch die Revolte innerhalb des Lagers, den Brand und die Flucht mancher Flüchtlinge zugespitzt. Insofern sei es auch nachvollziehbar gewesen, die Aufständischen schnell transferieren zu wollen, um die Stimmung unter den anderen Flüchtlingen zu beruhigen und sie zu beschützen.
Das Verbot unmenschlicher Behandlung ist absolut
Doch all diese Umstände befreiten die Behörden nicht von der Pflicht, die Menschenwürde der Flüchtlinge zu wahren, so der EGMR. Insbesondere das Verbot unmenschlicher Behandlung gelte absolut und sei nach Art. 15 EMRK weder durch Krieg noch durch sonst irgendeinen Notstand begrenzt.
Dieses Urteil hat Signalwirkung, gerade auch durch seinen weiten und offenen Blick auf alle zugunsten der Verantwortlichen sprechenden Umstände. Mitten in der sich täglich zuspitzenden Flüchtlingskrise muss die Straßburger Entscheidung auch alle anderen europäischen Länder daran erinnern, dass die Menschenwürde ein unantastbares Gut ist, das mit keiner Argumentation relativiert werden kann.
Klar ist: Jedes einzelne Land muss sich vorbereiten und die eigene Logistik und Organisation verbessern, um eine menschenwürdige Unterbringung und Behandlung Geflohener zu garantieren und Flüchtlingen die Möglichkeit effektiven Rechtsschutzes zu eröffnen. Behörden und Politiker können angesichts dessen kaum mehr die Augen davor verschließen, dass sie der großen Herausforderung, vor der Europa steht, ohne Ausflüchte gerecht werden müssen.
Anne-Christine Herr, EGMR zum Umgang mit Flüchtlingen in Lampedusa: . In: Legal Tribune Online, 02.09.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16780 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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