EGMR zum Umgang mit Flüchtlingen in Lampedusa: Die Würde des Men­schen ist unan­tastbar

von Anne-Christine Herr

02.09.2015

Italien hat 2011 in Lampedusa gegen die Rechte von Flüchtlingen verstoßen. Mangelnde Vorbereitung und logistische Probleme befreien die Behörden nicht von der Pflicht, die absolut geltende Menschenwürde zu wahren, stellte der EGMR klar.

Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ging es um die Zustände auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa im Jahr 2011. Die drei Männer aus Tunesien, welche die Beschwerde eingereicht haben, waren nach der Revolution in dem nordafrikanischen Staat aus ihrem Heimatland geflohen und hatten versucht, per Boot unbemerkt die italienische Küste zu erreichen. Sie wurden jedoch von der nationalen Küstenwache abgefangen und auf die Insel Lampedusa gebracht.

Das dortige Erstaufnahmelager war aber mit mehr als 50.000 Flüchtlingen gänzlich überfüllt. Die hygienischen und sanitären Verhältnisse seien nicht zumutbar gewesen, so die klagenden Flüchtlinge. Sie hätten auf dem Boden schlafen, auf der Erde essen und mehrere Stunden auf einen Toilettengang warten müssen. Der Zugang an die frische Luft sei ihnen nur wenige Minuten am Tag auf einem kleinen Balkon gestattet gewesen. Dabei habe die ständige Überwachung dafür gesorgt, dass es nicht zu Kontakt mit der Außenwelt kam. Niemand hätte ihnen Informationen darüber gegeben, wie es nun weitergehen soll. Stattdessen hätten sie Beleidigungen und Misshandlungen durch die überwachenden Polizisten erleiden müssen.

Am 20. September 2011 gab es eine Revolte unter den Flüchtlingen, bei der das Lager teilweise abbrannte. Die drei Kläger wurden zunächst für die Nacht provisorisch in einem Sportpark untergebracht. Von dort aus gelang ihnen die Flucht und gemeinsam mit etwa 1.800 weiteren Migranten protestierten sie gegen die Zustände auf den Straßen der Insel. Viele der Protestierenden wurden von der Polizei verhaftet und nach Palermo geflogen. Nach einer weiteren provisorischen Unterbringung auf Schiffen im dortigen Hafen wurden sie nach einigen Tagen zurück nach Tunesien abgeschoben. Zu keinem Zeitpunkt seien sie schriftlich über die tatsächlichen und rechtlichen Gründe für diese Behandlung informiert worden, trugen die Tunesier vor.

Unmenschliche Behandlung, unzulässige Gruppendeportation

Die Menschenrechte von Flüchtlingen müssen geachtet werden, auch wenn das Ankunftsland nicht auf die Zahl der Geflohenen vorbereitet und daher völlig überlastet ist, entschied der EGMR  am Dienstag (Urt. v. 01.09.2015, Az. 16483/12). Insbesondere die Zustände in Erstaufnahmeeinrichtungen müssen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) entsprechen, auch dürfen Menschen nicht pauschal in Gruppen abgeschoben werden.

Die Richter sahen zunächst das Recht der Tunesier auf Freiheit gemäß Art. 5 der EMRK verletzt. Dieses elementare Menschenrecht sei mehrere Male nicht beachtet worden, indem die Geflohenen immer wieder eingesperrt und von der Außenwelt abgeschnitten wurden, ohne dass man ihnen auf irgendeinem Weg erläutert habe, was mit ihnen passiert. Gerade aber die Garantie auf effektiven Rechtsschutz besage, dass jede festgenommene Person das Recht habe, den Grund hierfür zu wissen, um eine Basis dafür zu haben, sich auf juristischem Weg dagegen zur Wehr zu setzen.

Die Mehrheit der Kammermitglieder sah aufgrund der Zustände in dem Erstaufnahmelager auch das Verbot unmenschlicher Behandlung aus Art. 3 EMRK verletzt. Auch in Zeiten der Not müsse ein Land sicherstellen, dass jede ankommende Person in einer Weise untergebracht bzw. inhaftiert wird, die ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden ausreichend sichert und das unvermeidbare Maß an Leid, das mit einer Freiheitsentziehung einher geht, nicht übersteigt.

Die Dauer sowie die physischen und psychischen Wirkungen der Behandlung und der Unterbringung, zu der die individuelle Belastung durch die vorherige gefährliche Flucht hinzutritt, führten dazu, dass der für Art. 3 EMRK erforderliche Schweregrad erreicht gewesen sei. Dabei sei insbesondere die Überlastung des Lagers der entscheidende Faktor gewesen, da dieser ursächlich für die unmenschlichen Zustände des mangelnden Zugangs zu sanitären Anlagen, zu Licht und Luft, ohne Möglichkeit auf Intimsphäre gewesen war.

Auch die Abschiebungen seien rechtswidrig gewesen. Die individuelle Registrierung der Flüchtlinge habe nicht ausgereicht angesichts der Pauschalität, mit der die letztliche Abschiebung durchgesetzt worden sei. Diese stufte die Mehrheit Richter als nach Art. 4 des Protokolls Nr. 4 zur EMRK* unzulässige Gruppendeportationen ein.

* geändert am 03.09.2015, 9.55 Uhr. Zuvor stand hier Art. 4 EMRK.

Zitiervorschlag

Anne-Christine Herr, EGMR zum Umgang mit Flüchtlingen in Lampedusa: . In: Legal Tribune Online, 02.09.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16780 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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