EGMR zum Präventivgewahrsam: Auch ein Hoo­ligan muss fried­lich bleiben

von Dr. Sebastian Söllner

15.03.2013

Vergangene Woche verkündete Straßburg ein Urteil, das das deutsche Polizeirecht hätte aufmischen können. Nach den Erfahrungen, die man in Sachen Sicherungsverwahrung gemacht hatte, waren die Innenministerien auf das Schlimmste gefasst. Aber diesmal kam es anders: Die Polizei darf Fußball-Hooligans vorsorglich in Haft nehmen. Die Urteilsbegründung ist allerdings etwas schief, meint Sebastian Söllner.

Henrik Ostendorf aus Bremen war der Polizei bereits wohl bekannt, als der Hooligan-Chef mit seiner "Fangruppe" zu einem Spiel seines Vereins nach Frankfurt am Main reiste. Eine Stunde vor Beginn des Spiels nahm ihn die Polizei in Gewahrsam, weil er offenbar versucht hatte, sich von der Gruppe abzusetzen, um mit dem Chef des verfeindeten Hooliganclubs aus Frankfurt Konditionen und Locations für die im Anschluss an das Spiel geplante Schlägerei festzulegen. Eine Stunde nach Abpfiff kam er wieder auf freien Fuß. Insgesamt befand er sich rund vier Stunden in Haft.

Vollkommen zu Unrecht, wie er selbst meinte. Bis nach Straßburg zog der Hooligan, um diese Auffassung durchzusetzen. Vor Gericht stand damit der Unterbindungs- oder Präventivgewahrsam, also die Möglichkeit vorsorglich eine Person für kurze Zeit einzusperren, um sie daran zu hindern, eine Straftat zu begehen. Bislang blieb dem Hooligan-Chef der Erfolg verwehrt. Wenn er will, kann er noch vor die Große Kammer ziehen.

Ältere Urteile kritisch gegenüber Polizeigewahrsam

Die Voraussetzungen für den Präventivgewahrsam sind streng. Nach den Polizeigesetzen der Länder ist eine solche Maßnahme nur zulässig, wenn sie unerlässlich ist, um eine unmittelbar bevorstehende Straftat zu verhindern. Zudem muss ein Richter unverzüglich darüber befinden, ob die Polizei den Gewahrsam anordnen durfte und wie lange er andauern darf. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist dabei sehr streng, wie viel Zeit vergehen darf, bis ein Richter entscheidet. Die Höchstdauer für den richterlich angeordneten Polizeigewahrsam variiert in den Bundesländern zwischen fast zwei und bis zu 14 Tagen.

In einer älteren Entscheidung beurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) den deutschen Präventivgewahrsam sehr kritisch. 2011 verurteilte Straßburg die Bundesrepublik in der Rechtsache Schwabe vs. Germany. Dabei ging es um die Ingewahrsamnahme vor einer Demonstrationen bei dem G8-Treffen in Heiligendamm. Der EGMR stützte seine Entscheidung damals darauf, dass es in Deutschland an einer Ermächtigungsgrundlage für die Maßnahme fehlte; merkte aber an, dass er den Unterbindungsgewahrsam grundsätzlich nicht für gerechtfertigt halte (Urt. v. 08.11.2011, Az. 8080/08).

Die Straßburger Einschätzung führte dazu, dass etwa das Landgericht (LG) Rostock den Unterbindungsgewahrsam insgesamt für konventionswidrig und die entsprechenden Vorschriften des Landespolizeigesetzes für unwirksam hielt (Urt. v. 19.04.2012, Az. 3 T 13/10). Anders etwa das Verwaltungsgericht Hannover (Urt. v. 04.07.2012, Az. 10 A 1994/11) und die hessischen Instanzgerichte, die über den Fall des Bremer Hooligan zu entscheiden hatten, sowie das BVerfG, das eine Verfassungsbeschwerde des Mannes nicht zur Entscheidung annahm (Beschl. v. 26.02.2008, Az. 2 BvR 517/06).

EGMR bestätigt Befürchtungen deutscher Behörden nicht

In Rostock wird man spätestens nach letzter Woche umdenken müssen. In der neuen Entscheidung Ostendorf vs. Germany bestätigt der EGMR die Befürchtungen deutscher Sicherheitsbehörden nicht. Vielmehr hält er den Unterbindungsgewahrsam nun doch für gerechtfertigt (Urt. v. 07.03.2013, Az. 15598/08).

Die Mehrheit der Richter rechtfertigt die präventive Ingewahrsamnahme über Art. 5 § 1b der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Die Freiheitsentziehung sei geeignet, die Einhaltung bestimmter gesetzlicher Pflichten sicherzustellen. Nach Art. 5 § 1b EMRK kann auf diese Weise eine Freiheitsentziehung gerechtfertigt werden, ohne dass diese im Zusammenhang mit einem Strafverfahren stehen muss. Die Pflichten müssen allerdings konkret bestimmt sein. Üblicherweise fällt darunter die Beugehaft zur Erzwingung von Zeugenpflichten und die Durchsetzung von einstweiligen Unterlassungsverfügung.

Die Verpflichtung, keine Straftaten zu begehen, ist freilich sehr allgemein. Den EGMR störte das nicht. Die das Urteil tragenden Richter knüpften schlicht an die konkret befürchtete Straftat an, nämlich die geplante Schlägerei. Zeitpunkt und Ort der Tat waren eingrenzbar. Für Straßburg ist das Verhalten des Klägers ein klarer Verstoß gegen die "obligation to keep the peace", die Pflicht, sich friedlich zu verhalten.

Sondervotum ist überzeugender

Um einiges logischer als die Mehrheitsbegründung – wenn auch im Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung – ist das Sondervotum der Richter Paul Lemmens und Helena Jäderblom. Sie halten den Gewahrsam für gerechtfertigt, weil er dazu dient eine Straftat zu verhindern, vgl. Art. 5 § 1c EMRK.

Bei der Ingewahrsamnahme des Hooligan-Chefs sei es der Polizei nämlich darum gegangen, die geplante Schlägerei – eine Straftat – zu unterbinden. Die beiden Richter begründen überzeugend, dass die Vermeidung einer Straftat der einzige Zweck der polizeilichen Maßnahme war. Sie erkennen, dass das hessische Sicherheits- und Ordnungsgesetz, Bürger nicht rechtlich zu etwas verpflichtet – etwa sich friedlich zu verhalten – sondern die Polizei zu etwas ermächtigt.

Lemmens und Jäderblom geben damit die Rechtsprechung auf, dass Art. 5 § 1c nur eine Freiheitsentziehung rechtfertigt, die im Zusammenhang mit einem Strafverfahren steht. Die beiden Richter halten es vielmehr für geboten in Fällen der kurzfristigen Freiheitsentziehung das Caselaw so zu verstehen, dass es genügt den Betroffenen einem unabhängigen Gericht vorzuführen, dass über die Rechtmäßigkeit des Freiheitsentzuges entscheidet.

Präventivgewahrsam könnte vor Große Kammer kommen

Die Rechtfertigung über den Buchstaben b wirkt konstruiert. Geradliniger wäre es gewesen, wenn der Gerichtshof seine Rechtsprechung geändert hätte, wie es Lemmens und Jäderblom gefordert hatten. Am Ergebnis ändert dies freilich nichts: Der Polizeigewahrsam verstößt in jedem Fall nicht gegen die EMRK.

Nach diesem Urteil wird es für die Konventionsmäßigkeit des Polizeigewahrsams jedoch darauf ankommen, dass eine bevorstehende Straftat so weit konkretisiert ist, dass die Polizei nicht nur weiß, welcher Straftatbestand droht, sondern auch wo, wann und an wem dieser begangen werden soll.

Das Verfahren hat allerdings das Potential für eine zweite Runde, diesmal vor 15 statt sieben Richtern. Ob es dazu kommt liegt maßgeblich am Kläger. Rechtsmittel können binnen drei Monaten eingelegt werden.

Der Autor Dr. Sebastian Söllner ist Rechtsanwalt in Berlin und Kommentator des Praxishandbuchs Polizei- und Ordnungsrecht.

Zitiervorschlag

EGMR zum Präventivgewahrsam: . In: Legal Tribune Online, 15.03.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8342 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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