EGMR zur Lage auf der Krim: Russ­land begeht schwere Men­schen­rechts­ver­let­zungen

von Dr. Franziska Kring

25.06.2024

Willkürliche Verhaftung politischer Gegner, Zwangseinbürgerung von Ukrainern, Misshandlung und Folter: Der EGMR hat Russland wegen zahlreicher Verstöße gegen die EMRK verurteilt. Damit gab er einer Beschwerde der Ukraine statt.

Während die Welt den Blick derzeit vor allem nach Gaza richtet, geht auch der Ukraine-Krieg weiter. Am Montag hat der Gouverneur der von Russland annektierten Halbinsel Krim für Sewastopol den Ausnahmezustand ausgerufen. Zuvor hatte es mehrere ukrainische Raketenangriffe auf verschiedene Ziele auf der Krim gegeben. Nach offiziellen Angaben wurden bei dem Angriff vier Menschen getötet und 151 verletzt. Russland hat indes zum wiederholten Male die Großstadt Charkiw im Nordosten der Ukraine attackiert

Die Krim ist ein wichtiger logistischer Knotenpunkt für die russische Armee. Dort befinden sich zahlreiche Stützpunkte, von denen die russische Luftwaffe die Ukraine angreift. Das Hauptquartier der russischen Schwarzmeerflotte ist in der Hafenstadt Sewastopol. 

Seit der russischen Annexion im Jahr 2014 hat sich die Menschenrechtslage auf der Krim massiv verschlechtert. Immer wieder kommt es unter anderem zu willkürlichen Verhaftungen, Zwangseinbürgerungen von Ukrainern, Misshandlungen und Folter. Zahlreiche politische Gefangene seien nach Russland verbracht worden. Am stärksten betroffen sind die ukrainische und krimtatarische Bevölkerung der Krim sowie pro-ukrainische Journalisten und Aktivisten. Tausende Krimtataren seien in andere Teile der Ukraine vertrieben worden, heißt es in einem Bericht des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte.  

Russland habe seit der Annexion systematisch versucht, "ukrainische und krimtatarische Identitäten auszulöschen", so ein Bericht von Amnesty International. Der Gebrauch der ukrainischen und der krimtatarischen Sprache in Bildung, Medien, bei nationalen Feierlichkeiten und in anderen Lebensbereichen werde eingeschränkt bzw. verboten sowie religiöse und kulturelle Bräuche dieser Bevölkerungsgruppen unterdrückt.  

Wegen dieser und weiterer Menschenrechtsverletzungen hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Russland jetzt verurteilt (Ukraine v. Russia (re Crimea), Urt. v. 25.06.2024, Beschwerde-Nr. 20958/14 und 38334/18). Russland habe ein "Muster von Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), eine Verwaltungspraxis von EMRK-Verstößen begangen". Russland müsse so schnell wie möglich dafür sorgen, dass die Gefangenen, die von der Krim in Gefängnisse auf russischem Staatsgebiet gebracht worden sind, wieder zurückkommen.

EGMR entschied über zwei Staatenbeschwerden

Dabei hatte der Straßburger Gerichtshof über zwei Staatenbeschwerden zu entscheiden, die sich auf Ereignisse auf der Krim seit dem 27. Februar 2014 beziehen – dem Tag, an dem Russland durch die Annexion die effektive Kontrolle über die Krim erlangte. Über die Zulässigkeit der ersten Staatenbeschwerde hatte der EGMR schon 2019 verhandelt und diese dann Ende 2020 bestätigt. 

Die andere Staatenbeschwerde betrifft vor allem politische Gefangene. Darunter war auch der ukrainische Regisseur Oleh Senzow, der im Mai 2014 in Simferopol verhaftet, an Russland überstellt und dort zu 20 Jahren Straflager wegen Terrorismus verurteilt wurde. Im Rahmen eines Gefangenenaustauschs zwischen Russland und der Ukraine wurde Senzow am 7. September 2019 freigelassen und kehrte in die Ukraine zurück. Nach Angaben der Ukraine gab es im Dezember 2022 mindestens 203 solcher politischen Gefangenen. Bei dieser Staatenbeschwerde musste der EGMR noch über die Zulässigkeit und Begründetheit entscheiden.  

Im Dezember 2023 hatte der EGMR über beide Staatenbeschwerden verhandelt, wie LTO berichtete. Russland hatte nicht teilgenommen. Die fehlende Teilnahme führt aber nicht automatisch dazu, dass der EGMR der Beschwerde stattgibt, wie Präsidentin Síofra O'Leary ausdrücklich klarstellte. Vielmehr müsse sich das Gericht "auf der Grundlage der verfügbaren Beweise davon überzeugen, dass die Beschwerde in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht begründet ist". Zu dieser Überzeugung ist der Straßburger Gerichtshof jetzt gelangt. Als Beweise dienten insbesondere Berichte von zwischenstaatlichen und nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) sowie Zeugenaussagen. 

Willkürliche Inhaftierungen, Folter, Schließung ukrainischer Fernsehsender 

Ausweislich des Berichts des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte und anderer Berichte zwischenstaatlicher Organisationen hat Russland zahlreiche ukrainische Soldaten, pro-ukrainische Aktivisten, Journalisten und Krimtataren unter Ausschluss der Öffentlichkeit festgehalten, gefoltert und teilweise durch Stromschläge getötet. Die ukrainischen politischen Gefangenen seien unter unangemessenen Haftbedingungen festgehalten worden. Die Vorwürfe seien nicht ordnungsgemäß untersucht worden und die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen worden.  

Zwischen 2014 und 2018 habe Russland mindestens 43 Personen verschwinden lassen. Religiöse Führer, die nicht dem russischen Glauben angehören, seien schikaniert und eingeschüchtert worden, es habe willkürliche Razzien in Gotteshäusern und Beschlagnahmen von religiösem Eigentum gegeben.  

Alle ukrainischen Fernsehsender auf der Krim und auch die einzige ukrainischsprachige Zeitung auf der Krim seien verboten worden. Auch öffentliche Versammlungen zur Unterstützung der Ukraine oder der krimtatarischen Gemeinschaft hätten nicht mehr stattfinden dürfen, die Organisatoren seien eingeschüchtert und willkürlich festgenommen worden. In den Schulen dürfe nahezu kein Unterricht mehr in ukrainischer Sprache stattfinden. Insbesondere die Krimtataren seien Opfer von Einschüchterungsmaßnahmen, physischen Angriffen, Hausdurchsuchungen und Inhaftierungen geworden. 

"Verwaltungspraxis" von Verletzungen der Menschenrechte

Durch diese Praktiken begeht Russland auf der Krim seit der Annexion ein "Muster von Verletzungen der EMRK, eine Verwaltungspraxis von Menschenrechtsverletzungen", so der EGMR. Nach der Rechtsprechung des EGMR ist das Vorliegen einer "Verwaltungspraxis" an zwei Voraussetzungen geknüpft: Zum einen die Wiederholung von mit der EMRK unvereinbaren Handlungen, die miteinander verbunden sind, sodass sie ein Muster oder System von Rechtsverletzungen darstellen. Zum anderen die offizielle Duldung dieser Verstöße durch die staatlichen Behörden. Beide Voraussetzungen sah der EGMR hier als erfüllt an. 

Insgesamt stellte der EGMR Verstöße gegen das Recht auf Leben aus Art. 2, das Folterverbot aus Art. 3, das Recht auf Freiheit und Sicherheit aus Art. 5, das Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 6, den Grundsatz "Keine Strafe ohne Gesetz" auf Art. 7, das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8, die Religions-, und Meinungs- und Versammlungsfreiheit aus Art. 9, 10 und 11 EMRK und das Diskriminierungsverbot aus Art. 14 EMRK fest. Außerdem seien der Schutz des Eigentums und das Recht auf Bildung aus Art. 1 und 2 des ersten Zusatzprotokolls sowie die Bewegungsfreiheit aus Art. 2 des vierten Zusatzprotokolls verletzt. 

Außerdem verstoße die Anwendung russischen Rechts auf der Krim gegen die EMRK, die im Lichte des Humanitären Völkerrechts ausgelegt werden muss. Demnach müssen Staaten die im "besetzten" Gebiet geltenden Gesetze einhalten – in diesem Fall ukrainische Gesetze. 

Weitere Verfahren gegen Russland

Vor dem EGMR sind derzeit noch drei weitere Staatenbeschwerden der Ukraine gegen Russland anhängig, u.a. wegen des seit dem 24. Februar 2022 andauernden russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine (Beschwerde-Nr. 11055/22). Eine weitere Beschwerde (Beschwerde-Nr. 43800/14) die mutmaßliche Verschleppung von Kindern aus der Ostukraine nach Russland. In der dritten Beschwerde geht es um die Geschehnisse in der Ostukraine mit dem Abschuss des Passagierflugzeuges MH17, bei dem 298 Menschen ums Leben kamen (Beschwerde-Nr. 8019/16). Wegen des Abschusses der MH17 hat auch die Niederlande eine Beschwerde gegen Russland erhoben (Beschwerde-Nr. 28525/20). Über alle vier Beschwerden der Ukraine bzw. der Niederlande hat der EGMR am 12. Juni 2024 verhandelt. Wann eine Entscheidung fällt, steht noch nicht fest. 

Außerdem liegen im Zusammenhang mit der Krim, der Ostukraine und dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine noch ca. 7.400 Individualbeschwerden beim EGMR. 

Russland ist zwar seit dem 16. September 2022 kein Mitglied der EMRK mehr, aber der EGMR kann weiterhin über Beschwerden entscheiden, die sich auf Geschehnisse vor diesem Datum beziehen. Wladimir Putin hat allerdings schon angekündigt, sich nicht mehr an Urteile des EGMR zu halten, und ein entsprechendes Gesetz auf den Weg gebracht.

Zitiervorschlag

EGMR zur Lage auf der Krim: . In: Legal Tribune Online, 25.06.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54852 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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