EGMR zu Adoption von Flüchtlingskind gegen Willen der Mutter: Recht auf Fami­li­en­leben ver­letzt

Von Dr. Christian Rath

17.12.2019

Die Adoption eines Pflegekinds, das einer Flüchtlingsmutter weggenommen worden war, verstieß gegen Recht auf Privatleben, so der EGMR. Den religiösen Konflikt versuchen die Straßburger Richter jedoch zu deeskalieren.

Norwegen hat die Rechte einer somalischen Mutter verletzt, deren Kind gegen ihren Willen von norwegischen Pflegeeltern adoptiert worden war. Das stellte nun der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg fest (Urt. vom 17. 12. 2019 - Ibrahim, Az. 15379/16).

Der EGMR versucht dabei offensichtlich, den religiösen Konflikt zu deeskalieren, der entstehen kann, wenn ein Kind zu einer Familie mit anderem religiösen Hintergrund gegeben wird – und bekräftigt das Recht auf Familienleben.

Die Somalierin kam 2010 als 17-jährige mit ihrem zehn Monate alten Sohn nach Norwegen und erhielt den Flüchtlingsstatus. Die Behörden sahen die Mutter mit der Erziehung jedoch überfordert und nahmen das Kind in Obhut. Damit war die Mutter zwar einverstanden, forderte aber, dass das Kind bei Verwandten oder zumindest in einer muslimischen Familie untergebracht wird. Stattdessen kam das Kind zu einer christlichen norwegischen Familie.

Die Kontaktregelung war äußerst restriktiv. Die Mutter durfte ihr Kind nur vier Mal im Jahr für zwei Stunden sehen, später sechs Mal im Jahr für eine Stunde. Das Kind reagierte nach Darstellung der Pflegeeltern teilweise sehr negativ auf Besuche der Mutter und weinte.

Adoption gegen den Willen der Mutter

Die Pflegeeltern beantragten 2013, das Kind zu adoptieren, um es zu einem vollwertigen Mitglied der Familie zu machen. Das Kind sollte getauft werden und keinen Kontakt mehr zur Mutter haben. Nach einem längeren Rechtstreit vor norwegischen Gerichten wurde die Adoption 2015 wirksam.

Das norwegische Obergericht ("High Court" im EGMR-Urteil) hatte argumentierte, dass das Kind ein stabiles Umfeld brauche. Wünsche der Mutter nach muslimischer Erziehung könnten für Unruhe sorgen. Das Gericht machte auch nicht von der im norwegischen Recht vorgesehenen Möglichkeit einer "offenen Adoption" Gebrauch, bei der weiter Kontakt zur leiblichen Mutter hätte bestehen können.

Die Mutter rief dagegen den EGMR an. Der norwegische Staat habe ihr Recht auf Familienleben gem. Art 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt. Indem ihr Kind zu einer Pflegefamilie mit so großen kulturellen und ethnischen Unterschieden gebracht wurde, habe er gezeigt, dass eine Rückkehr zur Mutter nie intendiert war. Auch sei ihre Religionsfreiheit gem. Art 9 EMRK verletzt, weil das Kind mit der Pflegefamilie in die Kirche gehe und Schweinefleisch esse.

EGMR: Recht auf Familienleben verletzt

Eine siebenköpfige Kammer des Straßburger Gerichtshofs prüfte ausschließlich das Recht auf Familienleben und sah dieses einstimmig als verletzt an.

Die norwegischen Behörden hätten nicht ausreichend auf eine Wiedervereinigung von Mutter und Kind hingewirkt. Dass das Kind auf Besuche der Mutter verstört reagierte, könne Norwegen nicht als Argument geltend machen, so die Richter, denn den Zusammenbruch der Familienbeziehung hätten die Behörden selbst verursacht, vor allem durch die restriktive Besuchsregelung.

Es sei auch nicht ausreichend aufgeklärt worden, so der EGMR, ob Kontakte zwischen Mutter und Kind generell, also auch in späteren Jahren, für das Kind schädlich wären. Aus Sicht des Gerichtshofs hätte der "religiöse und kulturelle Hintergrund" des Falles für eine Aufrechterhaltung von Kontakten gesprochen.

Versuch der Deeskalation

Der EGMR versuchte offensichtlich, den religiösen Konflikt zu deeskalieren und wertete den Fall als weiteres Beispiel für einen problematischen Umgang Norwegens mit Pflegekindern. Der Gerichtshof stützte sich dabei auf eine eigene Grundsatzentscheidung der Großen Kammer vom September 2019 (Urt. vom 10. 9. 2019 - Strand Lobben, Az.:37283/13), Damals war Norwegen verurteilt worden, weil es bei Pflegekindern nicht genug auf die Rückführung in die Herkunftsfamilie hinarbeite. In diesem Fall war eine norwegische Frau als leibliche Mutter betroffen.

Die Adoption des somalischen Kindes bleibt trotz des Straßburger Urteils bestehen, da der EGMR nationale Entscheidungen nur beanstanden, aber nicht aufheben oder ersetzen kann. Die Somalierin hätte zwar Schadensersatz erhalten können, hatte aber keinen beantragt.

Ein weiterer Fall: Polin gegen Norwegen

In einer zweiten parallelen Entscheidung wurde Norwegen an diesem Dienstag ebenfalls verurteilt (Urt. vom 17. 12. 2019 - A.S., Az. 60371/15). Hier hatte eine polnischen Mutter Beschwerde eingereicht. Auch in diesem Fall war das Kind in eine Pflegefamilie gebracht worden.

Die Polin hatte beantragt, die Maßnahme zu beenden, weil sie aufgrund mehrere Kurse jetzt bessere erzieherische Fähigkeiten habe. Dies lehnten die norwegischen Behörden und Gerichte ab und untersagten sogar jeden Kontakt zwischen Mutter und Kind. Zur Adoption durch die Pflegefamilie war es hier noch nicht gekommen. Norwegen muss der Polin 25.000 Euro Entschädigung. zahlen.
Beide Straßburger Urteile vom Dienstag sind noch nicht rechtskräftig.

Hintergrund dieser Norwegen-Fälle ist wohl der Wunsch des norwegischen Parlaments, dass bei langfristiger Unterbringung in Pflegefamilien die Kinder häufiger adoptiert werden sollten, um ihnen und den Eltern Sicherheit zu geben.

In Deutschland sollen Kinder im Herkunftsmilieu bleiben – wenn möglich

In Deutschland ist die Adoption von Pflegekindern gegen den Willen der Herkunftsfamilie zwar rechtlich möglich, aber völlig unüblich. Bei der Auswahl von Pflegeeltern wird ein Verbleib im Herkunftsmilieu angestrebt, um eine Rückkehr in die Herkunftsfamilie zu erleichtern.

Allerdings besteht in Deutschland ein Mangel an muslimischen Pflegeeltern, so dass zum Beispiel türkische Kinder häufig bei deutschen Pflegeeltern untergebracht werden.
Das Oberlandesgericht Hamm entschied 2016, dass eine christliche Pflegefamilie ein muslimisches Kind nicht gegen den Willen der leiblichen Eltern taufen lassen kann. Ab dem 14. Lebensjahr kann das Kind aber selbst entscheiden.

Zitiervorschlag

EGMR zu Adoption von Flüchtlingskind gegen Willen der Mutter: . In: Legal Tribune Online, 17.12.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/39287 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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