Nachdem Frankreich die Burka aus der Öffentlichkeit verbannt hat, fordern auch deutsche Politiker ein Verbot. Verletzt die Vollverschleierung die Menschenwürde oder verstößt eine staatliche Kleiderordnung gegen die Grundrechte? Würde ein Verbot vor dem BVerfG bestehen? Thomas Traub erläutert die verfassungsrechtlichen Probleme und wagt eine Prognose.
Am Anfang aller verfassungsrechtlichen Überlegungen zum Verbot der Burka in der Öffentlichkeit steht die Frage, ob das Tragen einer Burka den Schutz der Religionsfreiheit genießt, der durch Art. 4 Abs. 1 und 2 Grundgesetz (GG) gewährt wird. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) interpretiert den Schutzbereich dieses Grundrechts weit und spricht von einem Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten.
Der Begriff der Religionsausübung in Art. 4 GG ist offen für neue Formen religiös motivierten Verhaltens, die in Deutschland fremd sind. Wenn eine Muslima aufgrund islamischer Kleidungsvorschriften eine Burka trägt, wird dies also von dem Grundrecht der Religionsfreiheit geschützt.
Religionsfreiheit schützt auch Außenseiter und Sektierer
Daran ändert der Hinweis nichts, dem Koran lasse sich in Wirklichkeit gar kein Gebot entnehmen, dass Frauen sich in der Öffentlichkeit verschleiern sollen. Der religiös neutrale Staat ist nicht befugt, eine bestimmte Interpretation des Korans für verbindlich zu erklären.
Es kommt auf das religiöse Selbstverständnis der Gläubigen an, solange dieses plausibel begründet werden kann. Auch Außenseiter und Sektierer innerhalb einer Religion genießen den Schutz der Religionsfreiheit.
Damit ist die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit eines Burka-Verbots aber noch nicht beantwortet. Die Freiheit der Religionsausübung gilt nicht schrankenlos. Das BVerfG stellt für Beschränkungen hohe Hürden auf und verlangt, dass Verbote mit dem Schutz von Grundrechten Dritter oder anderen Verfassungsgütern gerechtfertigt werden können.
Der Hinweis auf die negative Religionsfreiheit anderer Bürger hilft dabei nicht weiter. Die negative Religionsfreiheit schützt davor, zur Teilnahme an religiösen Handlungen gezwungen zu werden. Einen Schutz vor der optischen Konfrontation mit fremden religiösen Bräuchen und Symbolen bietet das Grundgesetz nicht.
Wer aus Art. 4 GG einen Anspruch darauf ableiten will, in der Öffentlichkeit von fremden Glaubensbekundungen verschont zu werden, verdreht den Sinn dieses Grundrechts und lässt die Religionsfreiheit zu einem Kultusverhinderungsrecht verkümmern.
Schutz der Menschenwürde nicht gegen den Willen der Frau
Zur Begründung eines Verbots der Vollverschleierung wird auf den Grundsatz der Gleichberechtigung von Mann und Frau hingewiesen, der in Art. 3 GG enthalten ist. Wer eine Frau mit Gewalt oder Drohung zur Verschleierung nötigt, macht sich strafbar, § 240 StGB.
Dies rechtfertigt aber kein umfassendes Verbot in der Öffentlichkeit, das auch die Frauen trifft, die eine Burka freiwillig tragen. In einer modernen Gesellschaft wirkt diese Kleiderwahl für die Mehrheit der Bürger unverständlich, gar archaisch. Trotzdem ist der Staat nicht berechtigt, ein Verbot gegen den Willen der betroffenen Frauen durchzusetzen. Ein Schutz der Frauen vor sich selbst, eine individuelle Pflicht zur Emanzipation ist dem liberalen Rechtsstaat fremd.
Die Befürworter eines gesetzlichen Burka-Verbots argumentieren außerdem mit dem Schutz der Menschenwürde. Tatsächlich ist es menschenunwürdig, wie Frauen in Afghanistan unter dem Regime der Taliban dazu gezwungen wurden, sich nur noch vollverschleiert in der Öffentlichkeit zu zeigen.
Doch lässt sich damit kein pauschales Verbot in Deutschland begründen. Zum Inhalt der Menschenwürde und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zählt das Recht auf Selbstbestimmung, und damit auch das freiwillige Tragen eines Schleiers.
Verbot der Burka in der Schule – nicht nur für muslimische Lehrerinnen
Folgt daraus nun, dass die Burka überall erlaubt ist und nirgendwo verboten werden darf? Ganz und gar nicht.
Dies zeigt sich beispielsweise an öffentlichen Schulen. Dort kann muslimischen Schülerinnen das Tragen eines Vollschleiers gesetzlich verboten werden. Dafür spricht der staatliche Bildungsauftrag, der in Art. 7 GG verankert ist. Die schulische Erziehung soll die Persönlichkeitsentwicklung umfassend fördern und das Sozialverhalten beeinflussen. Dazu gehört auch die Kommunikation mit "offenem Visier".
Das Tragen der Burka kann auch in anderen Situationen verboten werden, sei es bei der Identitätsfeststellung durch die Polizei oder wenn durch den Schleier das Vermummungsverbot des Versammlungsgesetzes verletzt wird.
In aller Kürze bleibt festzuhalten: Ein pauschales, umfassendes Verbot der Burka in der Öffentlichkeit würde das BVerfG nicht akzeptieren. Zulässig ist aber ein gesetzliches Verbot in bestimmten Bereichen.
An diesem Ergebnis wird deutlich, was die Wirkungsweise der Grundrechte prägt: Statt einseitiger "Alles-oder-Nichts-Lösungen" ist das Ziel ein schonender Ausgleich, bei dem alle betroffenen Verfassungsgüter berücksichtigt werden, Staatsrechtler sprechen von "praktischer Konkordanz". Die richtige Antwort auf die Herausforderungen, vor die der Islam die deutsche Rechtsordnung stellt, ist ein Paradebeispiel für diese kluge Entscheidung unserer Verfassung.
Thomas Traub ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Institut für Kirchenrecht der Universität zu Köln. Er hat an einem Forschungsprojekt zum Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates mitgearbeitet.
Thomas Traub, Diskussion um Burka-Verbot: . In: Legal Tribune Online, 24.09.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1558 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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