Die GDL wird von Dienstagabend bis Freitag erneut streiken. Auch wenn das Streikrecht im Grundgesetz verankert ist: Das Tarifeinheitsgesetz darf nicht durch einen Streik umgangen werden, meint Gregor Thüsing.
LTO: Herr Professor Thüsing, bei der Urabstimmung der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) stimmten 95 Prozent der teilnehmenden Mitglieder für einen Streik. GDL-Chef Claus Weselsky hat schon angekündigt, dass der Personenverkehr von Mittwoch (2:00 Uhr) bis Freitag (2:00 Uhr) bestreikt wird, im Güterverkehr beginnt der Streik schon Dienstagabend. Zu Recht?
Prof. Dr. Gregor Thüsing: Das Streikrecht gehört zum Grundrecht auf Koalitionsbetätigung, deshalb darf eine Gewerkschaft davon Gebrauch machen. Doch der Streik bei der Bahn ist etwas Besonderes. Das liegt einmal daran, dass es sich um ein Unternehmen der Daseinsvorsorge handelt, auf dessen Leistungen die Öffentlichkeit im besonderen Maße angewiesen ist – gerade auch zu Zeiten von Corona. Zum anderen gelten die Vorgaben des Tarifeinheitsgesetzes (TVG), die die Konkurrenz verschiedener Gewerkschaften regelt, und die nicht durch einen Streik umgangen werden kann.
Was gilt arbeitsrechtlich für Streiks von Unternehmen der Daseinsvorsorge?
Die Daseinsvorsorge muss auch im Streik gewährleistet sein. Deshalb müssen Notdienste ermöglicht werden. Außerdem muss es sich bei einem Streik um das letzte Mittel, die ultima ratio, handeln, seinen Forderungen Geltung zu verschaffen.
Was uns eigentlich fehlt, sind präzise juristische Regeln, die zwar von der Wissenschaft vorgeschlagen wurden, aber bislang durch die Gesetzgebung nicht realisiert wurden. Richter müssen hier - ggfs. im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes – letztlich alles aus Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz, wo das Streikgrundrecht festgeschrieben ist, heraussaugen. Das ist schwierig und häufig nur einzelfallbezogene Kasuistik. Hier die klaren Vorgaben zu entwickeln – zum Umfang der Notdienstarbeiten oder zum richtigen Zeitpunkt des Streiks – ist immer unsicher.
"Ein faules Ei verdirbt das Omelette"
Hätte denn die Bahn eine Chance, den Streik verbieten zu lassen?
Jurist:innen neigen ja nicht dazu, sich festzulegen. Es kommt darauf an, ob beiden Seiten eine vernünftige Notdienstvereinbarung gelingt. Und natürlich auch auf die Streikforderungen. Die müssen allesamt rechtmäßig sein. Nur eine unzulässige Forderung macht den ganzen Streik unzulässig. Es gilt die "Rührei-Theorie": Ein faules Ei verdirbt das Omelette.
Der GDL wird vorgeworfen, sie wolle das geltende Tarifeinheitsgesetz nicht akzeptieren.
Mit dem TVG aus dem Jahr 2015 wollte der Gesetzgeber die Zersplitterung von Gewerkschaften verhindern. Eine maßgebliche Regelung findet sich in § 4a TVG, die die Kollision von Tarifverträgen innerhalb eines Betriebes betrifft. In einem solchen Fall ist nur der Tarifvertrag der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern im Betrieb anwendbar.
Die GDL hat im Vorfeld beispielsweise gesagt, dass sie Arbeitsvertragsklauseln haben will, die jedem Arbeitnehmer ermöglichen, auf den Tarifvertrag der GDL Bezug zu nehmen. Das soll auch dann gelten, wo nach den Regeln des TVG eigentlich der Tarifvertrag der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) gelten müsste.
Für so etwas kann man nicht streiken, und es ist zweifelhaft, ob man dies in einem Tarifvertrag überhaupt festschreiben kann. Aus meiner Sicht wäre das übergriffig: Tarifverträge regeln nicht arbeitsvertragliche Ansprüche, sondern nur tarifvertragliche. Das Bundesarbeitsgericht hat bereits entschieden, dass etwa durch die tarifvertragliche Verpflichtung zur Übernahme von Kündigungsschutz in Arbeitsverträgen den tariflichen Regelungen kein Ewigkeitsgehalt beigemessen werden kann. Das wäre eine Grenze, die ggfs. auch hier zu beachten wäre. Das wäre dann eine Frage, die noch nicht einmal spezifisch das TVG betrifft.
Zurück an den Verhandlungstisch?
Nach Meinung der Bahn gehe es bei der Auseinandersetzung nicht um mehr Gehalt, sondern um Konkurrenzkämpfe zwischen Gewerkschaften ...
Das ist erstmal nur die Darstellung der Bahn. Die GDL sagt, das stimme nicht. Aber da wird man genau hinschauen müssen: Welche Forderung wurde wann erhoben, durch wen und gegenüber wem? Generell gilt, dass die Regelungen des § 4a TVG dispositiv sind. Dispositiv heißt aber dispositiv nur für eine gemeinsame Regelung aller Beteiligten. Da muss die EVG mit ins Boot. Und dies sollte angestrebt werden.
Überhaupt dürfte in diesem sensiblen rechtlichen Umfeld der konsensuale Weg der trittsichere sein. Das gilt auch etwa für die Erklärung des Vorsitzenden, keinen Tarifvertrag unterschreiben zu wollen, wenn die Führungskräfte noch einen Bonus kriegen. Das geht nicht. Wenn sie nicht vom Tarifvertag erfasst werden, können für sie auch keine Regelungen getroffen werden. Ein Tarifvertrag soll Ansprüche für Arbeitnehmer schaffen, sie aber nicht beschränken. Es gilt das Günstigkeitsprinzip – und das ist nach fast allgemeiner Meinung nicht abdingbar.
Drohen der GDL möglicherweise Schadensersatzforderungen?
Da sind die Hürden – zu Recht – hoch. Die Gerichte scheuen sich, das Streikrecht durch unverhältnismäßige Drohszenarien einzuschränken. Da muss eine Gewerkschaft schon wissen, dass sie unrecht hat. Das dürfte hier nicht der Fall sein. Aber die Unsicherheit könnte dennoch ein Grund sein, nochmal an den Verhandlungstisch zu gehen.
Für eine friedliche Lösung scheint es nach der konkreten Ankündigung jetzt zu spät zu sein. Oder sehen Sie noch Raum für eine Verhandlungslösung?
Dass man jetzt sofort streikt, ohne Ankündigungsfrist und ohne Notfallpläne verhandelt zu haben – das ist ein falsches Signal an die Bahn und an die Kunden. Hoffentlich findet man ganz schnell an den Verhandlungstisch zurück.
Im Übrigen wären bei der Bahn eine Menge grundsätzlicher Fragen zu klären. Die Umgestaltung der Deutschen Bahn zu einem modernen und nachhaltigen Mobilitätskonzern geht nur mit der Belegschaft, nicht gegen die Belegschaft. Der Betriebsrat und die EVG haben schon deutlich gemacht, dass sie hieran mitwirken wollen. Das wird ohne die GDL nicht gehen, und die Bahn sollte sich soweit wie möglich auf die GDL zu bewegen. Ziel muss eine konstruktive Kooperation im Dienste des Unternehmens, der Mitarbeitenden und nicht zuletzt auch der Kunden und Kundinnen sein.
Es sollte immer noch möglich sein, eine Schlichtung oder zumindest moderierte Gespräche aufzunehmen und die Entgeltfragen jetzt zu regeln. Da muss eine Einigung doch erreichbar sein.
Die "Umgestaltung der Bahn" ist aber eher ein Zukunftsprojekt, oder?
Ja, die Strukturfragen sollten erstmal außen vor bleiben und ohne Streikdruck in aller Ruhe geklärt werden. Im Übrigen halte ich die Verquickung von Entgeltfragen und Strukturfragen im Hinblick auf eine sachliche Auseinandersetzung nicht für besonders förderlich.
Auch wenn das TVG sicherlich an einigen Stellen problematisch ist: Es ist geltendes Recht und das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetz seinen Segen gegeben.
Man kann daher nur an die GDL appellieren: Für ein hartes Verhandeln und ggf. auch einen Streik für besserer Arbeitsbedingungen werden viele Verständnis haben. Für Revierkämpfe auf dem Rücken des Bahnkunden nicht.
Prof. Dr. Gregor Thüsing LL.M. (Harvard) ist Direktor des Lehrstuhls für Arbeitsrecht am Institut für Arbeitsrecht und das Recht der sozialen Sicherheit an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.
Interview zum Bahnstreik: . In: Legal Tribune Online, 10.08.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45694 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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