Vor drei Jahren starben nach einem Dammbruch in Brasilien 270 Menschen. Zuvor hatte der TÜV Süd bescheinigt, das Bauwerk sei sicher. Mehr als tausend Hinterbliebene klagen nun gegen das Unternehmen. Auch strafrechtliche Ermittlungen laufen.
Als am 25. Januar 2019 das Rückhaltebecken der Eisenerzmine Corrégo do Feijão des Rohstoffgiganten Vale nahe der Stadt Brumadinho im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais brach, wälzten sich 13 Millionen Kubikmeter Schlamm mit einer Geschwindigkeit von teilweise mehr als 100 Stundenkilometer durch das Tal. Die Lawine begrub 270 Menschen. Unzählige Tiere starben, Wälder, Flüsse und weitere Gemeinden wurden verwüstet.
Seither tobt der juristische Streit um Verantwortlichkeiten und die Entschädigungen für Gemeinden, Hinterbliebene und Opfer. Am Pranger steht dabei nicht nur der weltweit agierende Bergbaukonzern Vale, sondern auch der in München ansässige TÜV Süd. Dessen brasilianische Tochterfirma TSB hatte einige Monate vor dem Dammbruch dem Bergbaukonzern Vale die Sicherheit des Dammes bescheinigt – angeblich entgegen gravierender Bedenken. Dem für das Projekt in Deutschland verantwortlichen TÜV-Süd-Manager M. wird in diesem Kontext vorgeworfen, den kritischen Sicherheitszustand des Dammes gekannt, ihn aber dennoch als sicher durchgewunken zu haben. Nicht zuletzt auch, so der Vorwurf von Hinterbliebenenvertretern und Gewerkschaften, um dem TÜV damit künftige Geschäfte mit dem weltweit agierenden Vale-Konzern zu ermöglichen.
Juristisch ausgefochten wird die Tragödie nun auf den unterschiedlichsten Ebenen: Zivilrechtlich und strafrechtlich, sowohl in Brasilien als auch in Deutschland. Beim Landgericht München I (LG) sind zwei Klagen in unterschiedlichen Kammern anhängig. Es geht um immateriellen und materiellen Schadensersatz. Mehr als 450 Millionen Euro werden insgesamt geltend gemacht. Beide Klagen richten sich gegen den TÜV Süd. Der Vorwurf lautet bei beiden: Obwohl der Konzern gewusst habe, dass sich der Damm in einem schleichenden Bruchmodus befunden habe, habe der TÜV ihn als sicher zertifiziert. Wäre das nicht geschehen, so hätte Auftraggeber Vale den Betrieb in Brumadinho einstellen müssen.
1.112 Klägerinnen und Kläger
In einer bereits 2019 eingereichten Klage vertritt die Hamburger Kanzlei Manner Spangenberg inzwischen 1.112 Angehörige und Überlebende der Katastrophe. Sie fordern vom TÜV Süd 436 Millionen Schmerzensgeld und Schadensersatz (Az. 28 O 14821/19).
Die Klage wurde erst kürzlich massiv erweitert. Ursprünglich hatten nur die Gemeinde Brumadinho und die Familie einer bei der Katastrophe getöteten Ingenieurin Schmerzensgeld und Schadensersatz gefordert. Es sollte eine Art Musterprozess werden. Dass nun über 1.000 Personen hinzugekommen sind, begründet Klägeranwalt Dr. Jan Erik Spangenberg unter anderem auch mit der aus seiner Sicht positiven Entwicklung des Verfahrens.
Spangenberg verweist auch auf den schleppenden Fortgang der Entschädigung in Brasilien. Dort hat der Bergbaukonzern Vale zwar nach eigenen Angaben bereits mehr als 3,3 Milliarden Dollar an Reparationen und Entschädigungen für soziale und ökologische Schäden sowie auch einige individuelle Entschädigungszahlungen geleistet. Laut Anwalt Spangenberg allerdings nicht in einem für die Betroffenen akzeptablen Umfang: Geld sei etwa für den Bau einer neuen Ringautobahn geleistet worden, bei Privatpersonen indes sei kaum etwas angekommen. Und wenn, so Spangenberg, dann in nicht angemessener Höhe. Für seine Mandantinnen und Mandanten fordert Spangenberg jeweils zwischen 300.000 und 650.000 Euro Schmerzensgeld. Rechtsgrundlage ist regelmäßig brasilianisches Recht. Danach steht z.B. den Angehörigen entweder direkt oder als Erben Schmerzensgeld zu.
Verkündungstermin am 1.Februar geplatzt
Wie das Verfahren vor der 28. Zivilkammer mit weiteren Beweisbeschlüssen fortgesetzt wird, ist nach der vom Gericht jetzt zugelassenen Erweiterung der Klage offen. Ein in diesem Verfahren ursprünglich festgesetzter Verkündungstermin am 1. Februar 2022 wurde aufgehoben und der Wiedereintritt in die mündliche Verhandlung angeordnet.
Es heißt, dass das Gericht dabei auch den Hinweis gegeben habe, dass es bestimmte Anträge der Klägerseite für unschlüssig erachte. Etwa den Feststellungsantrag, wonach unabhängig von den individuellen immateriellen und materiellen Schäden der TÜV Süd auch zum Ersatz aller weiteren Schäden verpflichtet sei. Klägervertreter Spangenberg gibt sich dennoch optimistisch: "Der Hinweis betrifft nur die Formulierung der Anträge und überhaupt nur einen Bruchteil der geltend gemachten Schadenssumme. Die Haftungsfrage ist im Grunde ausverhandelt", so Spangenberg. Dass das Gericht die Erweiterung der Klage zugelassen habe, wertet er als positives Signal.
Darüber hinaus gibt es noch ein weiteres Verfahren gegen den TÜV Süd am LG München: 180 Minenarbeiter und Angehörige von Beschäftigten fordern vom Konzern weitere rund 13 Millionen Schmerzensgeld (Az. 15 O 1083/21). Hier geht es, wie Klägeranwalt Dr. Rüdiger Helm erläutert, ausschließlich um immateriellen Schadensersatz. Grundlage ist hierfür die umweltrechtliche Gefährdungshaftung nach brasilianischem Recht.
Dass die Klage bereits seit gut einem Jahr ebenfalls anhängig beim LG ist, ist nahezu unbemerkt geblieben. Denn unklar war noch bis vor kurzem, wie hoch die Prozesskostensicherheit sein muss, die die Betroffenen leisten müssen, damit das Verfahren überhaupt in Gang kommt.
Gewerkschaft IG BCE leistet Prozesskostensicherheit
Nach § 110 Zivilprozessordnung müssen Kläger:innen auf Verlangen des Beklagten eine solche Sicherheit leisten, wenn sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder einem Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum haben.
Da die brasilianischen Kläger:innen knapp eine halbe Millionen Euro nicht aufbringen konnten, sprang ihnen nun die deutsche Industriegewerkschaft IG BCE zur Seite . Sie unterstützt aus Gründen der Solidarität mit den im Bergbau Beschäftigten das Anliegen aus Brasilien. IG BCE-Vorsitzender Michael Vassiliadis begründete am vergangenen Montagabend auf einer Veranstaltung mit Betroffenen das Engagement seiner Organisation: Es sei "moralisch und rechtlich" wichtig, dass die TÜV-Süd-Zentrale in München zur Verantwortung gezogen wird. Schließlich seien "unrichtige Bescheinigungen" ausgestellt worden. Die von der IG BCE geleistete "Bürgschaft" solle sicherstellen, dass die Betroffenen zu ihrem Recht kommen.
Dass die Gewerkschaft überhaupt eine derart hohe Sicherheit leisten musste, kritisiert Klägeranwalt Helm scharf: Der TÜV Süd habe der renommierten DGB-Gewerkschaft zunächst die Kreditwürdigkeit abgesprochen. "Unfassbar", so Helm. Seine Vermutung: Der Konzern versuche auf jede erdenkliche Weise, die Verfahren gegen ihn zu verzögern und zu verschleppen. So sieht es auch sein Kollege Spangenberg aus dem Parallelverfahren: "TÜV Süd wehrt sich mit allen Mitteln." Die anwaltlichen Schriftsätze seien lang und aggressiv formuliert, außergerichtliche Lösungen habe das Unternehmen immer abgelehnt.
TÜV SÜD: "Rechtlich nicht verantwortlich"
Beim TÜV Süd ist man sich unterdessen keiner rechtlichen Verantwortung bewusst: Verantwortlich für den Dammbruch sei allein Vale, nicht TÜV Süd. Der Betreiber sei verpflichtet, sämtliche durch den Dammbruch versursachten Schäden vollständig zu ersetzen, erklärt der Konzern gegenüber LTO auf Anfrage. "Die TÜV SÜD Brasil hat die Stabilitätserklärungen im Einklang mit den brasilianischen Regelungen und technischen Standards ausgestellt. Ein technisches Sachverständigengutachten internationaler Experten hat dies bestätigt". Außerdem, so TÜV Süd, habe die brasilianische Tochter im Rahmen des Prüfberichts für die Stabilitätserklärung eine Reihe von Empfehlungen zur Aufrechterhaltung und Verbesserung der Sicherheit des Damms ausgesprochen. Vale sei nach brasilianischem Recht dazu verpflichtet gewesen, diese zu beachten und umzusetzen.
Unterdessen hoffen die Hinterbliebenen jetzt auf ein Signal des LG München I: Es könne nicht sein, dass ein Unternehmen wie der TÜV aufgrund seiner Organisationsstruktur rechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werde, sagt Anwalt Helm. Es müsse eine Durchgriffshaftung stattfinden, die die Konzernzentrale in München treffe.
Wie die Verantwortlichkeiten für das furchtbare Unglück tatsächlich gelagert sind, darüber müssen allerdings nicht nur deutsche Zivilgerichte, sondern bald vielleicht auch ein deutsches Strafgericht entscheiden: Denn nicht nur In Brasilien ermittelt die Staatsanwaltschaft u.a. gegen den für das Projekt verantwortlichen TÜV-Süd-Ingenieur M., der noch immer für den TÜV Süd tätig ist. Er soll am 17. Mai 2018 wider besseren Wissens die Empfehlung gegeben haben, dem Damm trotz gewichtiger Sicherheitsbedenken den TÜV-Stempel aufzudrücken. Per WhatsApp-Nachricht sei grünes Licht gegeben worden, heißt es.
Ermittlungen gegen deutschen TÜV-Manager wegen fahrlässiger Tötung
Gegen M. ermittelt deshalb auch die Münchener Staatsanwaltschaft schon seit geraumer Zeit wegen fahrlässiger Tötung, Bestechung sowie wegen fahrlässigen Herbeiführens einer Überschwemmung – alles in Nebentäterschaft durch Unterlassen. Angezeigt ist außerdem laut Angaben der Ermittlungsbehörde ein Rechtsanwalt, der nach LTO-Informationen im Konzern wohl für Compliance-Fragen verantwortlich war. Ihm wird vorgeworfen, fahrlässig Aufsichtsmaßnahmen unterlassen zu haben, die erforderlich gewesen wären, um die Begehung von Straftaten bzw. Ordnungswidrigkeit nach deutschem und brasilianischem Recht der Mitarbeiter:innen von TÜV Süd sowie deren brasilianischer Gesellschaft im Zusammenhang mit der Ausstellung der Stabilitätserklärung zu verhindern.
Dass die Ermittlungen schon seit Jahren andauern, begründet die Münchner Staatsanwaltschaft gegenüber LTO u.a. mit Corona: Eine geplante Reise nach Brasilien zur Durchführung von Zeugenvernehmungen vor Ort habe wegen der Pandemielage nicht stattfinden können. Dies sei jedoch inzwischen im Rahmen der Rechtshilfe nachgeholt worden. Per Videozuschaltung habe die Staatsanwaltschaft München I an Zeugenvernehmungen in Brasilien teilnehmen können.
"Mittlerweile gingen zudem umfangreiche elektronische Dokumente (mehr als 1.600 Seiten) in Erledigung der Rechtshilfe aus Brasilien ein. Diese werden nunmehr übersetzt, soweit erforderlich, und ausgewertet". Wann mit dem Abschluss der Ermittlungen zu rechnen sei, steht daher bislang noch nicht fest, so eine Sprecherin der StA.
Der Dammbruch von Brumadinho: . In: Legal Tribune Online, 25.01.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47321 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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