Nur 15 Prozent für geschlossene Betriebe: Bre­chen die Ver­si­cherer in der Krise ihre Leis­tungs­ver­sp­re­chen?

von Hasso Suliak

28.04.2020

Rollt auf die Versicherer eine Klagewelle zu? Hoteliers und Gastronomen erhalten zunehmend Absagen von den Anbietern ihrer Betriebsschließungsversicherungen. Viele wollen statt der vollen Summe "aus Kulanz" nur 10 bis15 Prozent zahlen.

Betriebsschließungen machen den Hoteliers und Restaurants derzeit schwer zu schaffen. Und als wäre das nicht schon hart genug, droht vielen von ihnen jetzt noch Ärger mit der Versicherung. Der Grund: Viele Versicherer stehen auf dem Standpunkt, für Betriebsschließungen in der Coronakrise nicht leisten zu müssen. 

Beim Kasseler Rechtsanwalt und Fachanwalt für Versicherungsrecht Stephan Schmid von der Kanzlei Voigt, steht das Telefon nicht mehr still. Immer mehr Hoteliers und Gastronomen melden sich bei ihm, weil ihnen der Versicherer mitgeteilt hat, dass er für Schäden der Corona-bedingten Betriebsschließung trotz vorhandener Betriebsschließungsversicherung (BSV) nicht leisten will. Oder wenn überhaupt, dann nur aus Kulanz 15 Prozent der eigentlich im Versicherungsvertrag vereinbarten Tagessumme für die Dauer der maximal versicherten Schließungszeit von 30 Tagen.

Und das auch nur unter Bedingung, dass der Versicherungsnehmer sich in einer "Abfindungserklärung" (Ergo) bereit erklärt, im Nachhinein auf Ansprüche aus der BSV zu verzichten.

Einsparungen durch Kurzarbeitergeld und Soforthilfen einkalkuliert 

Diese 15 Prozent-Lösung – die Provinzial Rheinland spricht sogar nur von 10 bis15 Prozent - war Anfang April auf Initiative der Bayerischen Landesregierung zunächst vom Versicherungsriesen Allianz, der Versicherungskammer Bayern und der Haftpflichtkasse Darmstadt entwickelt worden. Mittlerweile praktizieren diese eine Reihe von Versicherern wie etwa die Gothaer, Ergo, die Haftpflichtkasse VVAG, die Nürnberger, die Signal-Iduna und die Zurich Gruppe Deutschland. Viele von ihnen haben ankündigt, den Vergleichsvorschlag auch bundesweit ihren Kunden anzubieten.

Und warum nur 15 Prozent? Dass nur ein Bruchteil der eigentlich vereinbarten Versicherungssumme –und das "ohne Anerkennung einer Rechtspflicht" - gezahlt wird, begründen die Versicherer damit, dass sich durch Kurzarbeitergeld, Soforthilfen von Bund und Land sowie durch ersparte Aufwendungen für Materialkosten der wirtschaftliche Schaden bei den betroffenen Betrieben ohnehin um rund 70 Prozent reduziere. Und von den verbleibenden 30 Prozent würde dann eben "freiwillig" nur die Hälfte übernommen. In einem exemplarischen Schreiben der Ergo an einen Hotelier vom 15. April, das LTO vorliegt, heißt es: "Wegen der ungeklärten Rechtslage und zur Vermeidung eines Rechtsstreits sind wir im Erledigungsinteresse vergleichsbereit".

"Keine Vollschließung"? 

Ungeklärte Rechtslage? Die Versicherer selbst sind – wie auch ihr Dachverband, der Gesamtverband der Versicherungswirtschaft GDV, auf LTO Nachfrage bestätigt – der Ansicht, dass die BSV "im Regelfall nicht greift". 

BSV bieten Versicherungsschutz für Unternehmen, deren Betrieb beim Auftreten meldepflichtiger Krankheiten oder Krankheitserreger aufgrund Maßnahmen nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) geschlossen wird. Die aktuellen Betriebsschließungen wegen des Coronavirus erfolgen allerdings nicht auf der Grundlage des IfSG, sondern aufgrund der von den einzelnen Bundesländern getroffenen Allgemeinverfügungen. "Und bei Allgemeinverfügungen leistet prinzipiell keine Betriebsschließungsversicherung", sagt Signal Iduna-Sprecher, Claus Rehse.

Auch Allianz-Sprecher Christian Weishuber sieht das so und erläutert: "Die Schließung der Betriebe erfolgt aus generalpräventiven Gründen und nicht, weil von ihnen eine unmittelbare Gefahr für die Gesundheit anderer ausgeht."

Außerdem, so Weishuber, sei Covid-19 "ein neuer Krankheitserreger", der nicht unter die versicherten meldepflichtigen Krankheiten der Betriebsschließungsversicherung falle. Und schließlich liege auch keine Vollschließung des Betriebes vor, da vielen Gastronomie- und Beherbergungsbetrieben die Abgabe und Lieferung von Speisen weiterhin gestattet sei, diese daher "nicht vollständig" schließen müssten.

Greift die Auslegung der Versicherer zu kurz?

Eine Begründung, die die im Versicherungsrecht erfahrene Rechtsanwältin Dr. Annette Schwab zornig macht: "Ausgerechnet in der Krise lassen die Versicherer ihre Kunden hängen", sagt sie. Für die Berliner Anwältin von der Kanzlei BMH Bräutigam sind die Gründe der Versicherer nicht stichhaltig, sie beruhten vielmehr auf einer juristischen Auslegung der Versicherungsbedingungen, die viel zu kurz greife.

Etwa wenn eingewandt werde, dass das für Hotels ausgesprochene Beherbergungsverbot keine vollständige Betriebsschließung sei, da es nur für touristische Gäste gelte und Geschäftsreisende nach wie vor aufgenommen werden könnten. "Bei Ferienhotels z.B. handelt es sich sehr wohl um eine 'faktische Schließung', genauso wie bei den vielen Restaurants, die ihre eigentliche Leistung aufgrund der Anordnungen in großem Umfang nicht mehr erbringen dürfen", so Schwab gegenüber LTO.

Wie ihr Kollege Stephan Schmid, der bereits eine zweistellige Anzahl von Klagen gegen Versicherer auf den Weg gebracht hat, hat auch Schwab sowohl gegen die Ergo als auch gegen die Allianz Klage eingereicht, nachdem beide Unternehmen ihren Versicherungskunden ebenfalls nur den 15 Prozent-Vergleich anbieten wollten.

Diesen hält Rechtsanwältin Schwab für inakzeptabel. Denn bei den abgeschlossenen Versicherungsprodukten handele es sich in der Regel um sogenannte Summen- und nicht um Schadensversicherungen. Es komme daher gar nicht darauf an, welche Kosten oder Verluste tatsächlich entstanden seien, und damit auch nicht darauf, ob die Einbußen der Betriebe durch staatliche Hilfen gemindert seien. Die Kürzung der Forderung auf 15 Prozent unter anderem mit der Begründung, Einbußen könnten zu 70 Prozent über die Beantragung von Kurzarbeitergeld etc. abgewendet werden, sei nicht tragfähig.

Vielmehr schuldeten die Versicherer pro Tag die vorab vertraglich vereinbarte (am Umsatz orientierte) Tagesentschädigung.

"Ausdruck purer Angst vor einer Klagewelle"

Auch der Berliner Fachanwalt für Versicherungsrecht, Norman Wirth, ist empört: "Was aktuell im Bereich der Betriebsschließungsversicherung passiert, habe ich in den vielen Jahren meiner Berufstätigkeit nicht erlebt. Das Versicherer trotz bestehendem Versicherungsschutz nur 10-15 Prozent der Versicherungsleistung anbieten, sich dabei auch von allen zukünftigen Versicherungsfällen freizeichnen wollen und Kunden mit Kündigungsandrohungen unter Druck setzen, dürfte den Grundsätzen des Versicherungsvertragsgesetzes widersprechen. Danach haben Versicherer nämlich stets ehrlich, redlich, professionell und im bestmöglichen Interesse ihrer Kunden zu handeln. Das erleben wir bei dieser Thematik gerade eher selten."

Wie Schwab und Wirth rät auch Versicherungsrechtler Schmid seinen Mandanten davon ab, das Vergleichsangebot der Versicherer anzunehmen: "Es ist in meinen Augen Ausdruck purer Angst vor einer Klagewelle." Der Anwalt plant, unter anderem die Versicherer Allianz, Ergo, Sparkassenversicherung und die Württembergische zu verklagen.

Nicht alle Versicherer verweigern die Leistung

Indes: Ob die Gerichte demnächst die Anbieter von BSV dazu verpflichten werden, den Betreibern von Hotels, Restaurants, Cafes, Gaststätten, aber auch von Vergnügungsstätten wie Clubs und Diskotheken die vollen Versicherungsleistungen zu leisten, gilt juristisch als offen. Im Einzelfall wird es auf die detaillierten Formulierungen in den durchaus sehr unterschiedlichen Bedingungen der Versicherer ankommen.

Hoffnung machen können sich jedenfalls die Kunden der Generali Deutschland. Das Unternehmen hat sich laut Dachverband GDV " für einen anderen Weg entschieden, um betroffene Betriebe zu unterstützen und einen Fonds von 30 Millionen Euro eingerichtet".

Und auch die Kunden der Barmenia-Versicherung könnten Glück im Unglück haben. Auf LTO- Anfrage teilt eine Sprecherin des Unternehmens mit, dass man bisher auf der Grundlage der Bedingungen in erheblichem Umfang Leistungen aus der Betriebsschließungsversicherung erbracht habe. "Soweit die vertraglich vereinbarte Wartezeit abgelaufen war, stehen wir zu unserem Leistungsversprechen und haben bei Vorliegen von behördlichen Anordnungen bzw. Allgemeinverfügungen geleistet."

Der Hamburger Fachanwalt für Versicherungsrecht Björn Thorben Jöhnke berichtet ebenfalls von guten Erfahrungen mit Versicherern, etwa der HDI-Gerling oder der Bayerischen. Auch wenn er gegenüber LTO bestätigt, dass er ebenfalls Klagen gegen Versicherer vorbereite, scheuten einige seiner Mandanten aus der Gastronomie einen langwierigen Prozess. Jöhnke setzt in diesen Fällen auch auf Gespräche mit Versicherern, "um den 15 Prozent- Deal zu korrigieren".

Unklare Versicherungsbedingungen?

Doch auch für Kunden von Allianz, Ergo und Co. scheint nach Einschätzung von Versicherungsrechtlern die Lage nicht aussichtslos: So kommt ein Gutachten des früheren Vorsitzende Richter am Münchener Oberlandesgericht und Honorarprofessors der Uni München, Walter Seitz, auf Basis einiger Allgemeiner Versicherungsbedingungen zu dem Schluss, "dass der Anspruch auf Zahlung der Versicherungssumme bei Betriebsschließungsversicherungen wegen der Untersagung der Öffnung von Gaststätten grundsätzlich uneingeschränkt besteht". Seitz zufolge sind manche Klauseln in den Geschäftsbedingungen der Versicherer auch nicht hinreichend eindeutig formuliert. Zweifel bei der Auslegung von Versicherungsbedingungen müssten nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zulasten des Versicherers gehen.

Ähnlich sieht es auch Rechtsanwältin Schwab, die auf § 307 Bürgerliches Gesetzbuch verweist, wonach Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen auch dann den Vertragspartner entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen können, wenn diese nicht klar und verständlich sind.

Versicherer unter "Beobachtung" des BMJV

Und wie reagiert die Bundesregierung?  Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) teilte auf Anfrage von LTO mit, dass es die Situation und das Verhalten der Versicherer aufmerksam beobachte und wegen dieser Problematik auch im Austausch mit dem Versicherverband GDV stehe. Bereits Anfang April hatte sich Justizministerin Lambrecht auch in einem Schreiben an den Präsidenten des GDV für eine zügige Regulierung solcher Schäden eingesetzt.

Zu dem von den Versicherern praktizierten 15 Prozent-Angebot wollte das BMJV allerdings keine abschließende Einschätzung abgeben.  "Die Beteiligten sollten unter sorgfältiger Abwägung der jeweiligen Vor- und Nachteile entscheiden, ob sie sich einem solchen Kompromiss anschließen möchten", teilte BMJV-Sprecher Stefan Zimmermann mit. 

Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (DEHOGA Bundesverband) appellierte dagegen an die Versicherer, "entsprechend der vereinbarten Verträge schnell und unbürokratisch zu regulieren". "Es geht um die Existenz Tausender Betriebe. Aber es geht auch um das Vertrauen in die Versicherungswirtschaft", so DEHOGA-Pressesprecherin Stefanie Heckel zu LTO.

Zitiervorschlag

Nur 15 Prozent für geschlossene Betriebe: . In: Legal Tribune Online, 28.04.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41446 (abgerufen am: 20.11.2024 )

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