Erneut urteilt das BVerwG gegen Industrie- und Handelskammern, die von ihren Mitgliedern zu hohe Beiträge verlangt und unzulässig Vermögen angehäuft haben. Den IHK drohen jetzt Rückzahlungen in Millionenhöhe.
Sowohl die Industrie- und Handelskammer (IHK) Braunschweig als auch die IHK Lüneburg-Wolfsburg haben über Jahre von ihren Mitgliedern zu hohe Beiträge kassiert. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) erklärte am Mittwoch Beitragsbescheide aus den Jahren 2011, 2014 und 2016, gegen die zwei Einzelunternehmer geklagt hatten, für rechtswidrig (Urt.v.22.01.2020, Az. 8 C 9.19, 8 C 10.19. u.a.).
Die IHK hätten sich bei ihrer Rücklagenbildung nicht an das Gebot der "haushaltsrechtlichen Schätzgenauigkeit" gehalten. Wie das BVerwG am Donnerstag mitteilte, hätten die beiden Kammern aus Niedersachsen bei der Berechnung der Mitgliedsbeiträge unter anderem überhöhte Rücklagen zu Grunde gelegt und damit unzulässig ihr Eigenkapital erhöht.
Die Sätze klingen nur allzu bekannt. Schon im Jahr 2015 hatte das BVerwG in einem Grundsatzurteil gegen eine derartige rechtswidrige Vermögensbildung geurteilt, betroffen war damals die IHK Koblenz (Urt. v. 09.12.2015, Az. 10 C 6.15) Als Folge dieses Urteils mussten allein die Rheinlandpfälzer einen Vermögensabbau in zweistelliger Millionenhöhe betreiben. Auch andere IHK mussten reagieren. Und doch: So richtig ernstgenommen wurde die Entscheidung von den regionalen Kammern offenbar nicht.
IHK: Pflichtmitgliedschaft zulässig
Die Industrie- und Handelskammern sind als Körperschaften des öffentlichen Rechts organisiert. Vom Staat sind ihnen bestimmte Aufgaben übertragen wie etwa die Abnahme von Prüfungen in der Ausbildung oder die Beratung von Existenzgründern.
Für Unternehmen besteht eine Pflichtmitgliedschaft in der IHK: Mitglied muss sein, wer im Bezirk der jeweils regional zuständigen Industrie- und Handelskammer einen Gewerbebetrieb betreibt. Das Modell dieser Pflichtmitgliedschaft und der damit verbundene Pflichtbeitrag, der sich an der Leistungsstärke eines Betriebes orientiert, stehen schon seit Jahren in der Kritik.
Rückzahlungen von über 200 Millionen Euro?
Das hat allerdings nichts damit zu tun, wie hoch die zu vereinnahmenden Beiträge sein dürfen. Denn die Bildung von Vermögen ist den Kammern gesetzlich verboten, wie jetzt auch noch mal das BVerwG klarstellte. Sie dürfen zwar finanzielle Reserven bilden, den Leipziger Richtern zufolge aber nur, soweit sie hierfür einen sachlichen Zweck im Rahmen zulässiger Kammertätigkeit anführen können.
Auch der Umfang der Rücklagen muss von diesem sachlichen Zweck gedeckt sein. Und: Die Prognose über die Höhe des Mittelbedarfs muss dem Gebot der sogenannten haushaltsrechtlichen Schätzgenauigkeit genüge. Bezogen auf den Zeitpunkt ihrer Erstellung müsse die Prognose "sachgerecht und vertretbar ausfallen".
Wie das BVerwG in seiner Erklärung zum Urteil ausführte, ist an diesen Maßstäben nicht nur die Bildung von Rücklagen, sondern generell jede Bildung von Vermögen - also auch die Erhöhung der sogenannten Nettoposition, eine Art Eigenkapitalquote der Kammern - zu messen. Dies müssen die Kammern bei der jährlichen Aufstellung ihres Wirtschaftsplans beachten.
An diese Maßgaben haben sich die IHK in Braunschweig und Wolfsburg-Lüneburg offenbar nicht gehalten. Laut BVerwG müssen sie nun "überhöhte Rücklagen und Nettopositionen baldmöglichst auf ein zulässiges Maß zurückführen". In welcher Dimension die Kammern Beiträge an ihre Mitglieder zurückzahlen müssen, lässt sich noch nicht genau beziffern.
Laut dem Bundesgeschäftsführer des Bundesverbandes für Freie Kammern (bffK), Kai Boeddinghaus, musste die IHK Koblenz allein aufgrund des BVerwG-Urteils von 2015 ihr Vermögen um 35 Millionen Euro verringern. Die Kammern in Hamburg und in Berlin hätten infolge des damaligen Richterspruchs ebenfalls Beiträge in zweistelliger Millionenhöhe an ihre Mitgliedern zurückführen müssen, so der Sprecher des Verbands, der sich für eine Änderung des Rechtsrahmens der IHK einsetzt und über den auch die sog. IHK-Rebellen bundesweit vernetzt sind, welche eine Pflichtmitgliedschaft in der Kammer ablehnen. Boeddinghaus rechnet als Folge aus dem neuerlichen BVerwG Urteil nunmehr mit bundesweit mit rund 200 bis 250 Millionen Euro Rückzahlungen.
Kammern begründen Finanzbedarf mit Diesel-Skandal bei Volkswagen
Während bei den IHK das Urteil vom Mittwoch ein Beben auslöste, war die Freude der bffk-Geschäftsführers im Gespräch mit LTO groß. "Dafür habe ich Jahre gearbeitet", sagte Boeddinghaus. Die Kläger, die nun in Leipzig obsiegten, sind Mitglied seines Verbandes und Einzelunternehmer aus dem IT-Bereich, ihre Beiträge an die IHK fallen nach Angaben von Boeddinghaus eher niedrig aus. Die Höhe der IHK-Beiträge ist nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Mitglieder gestaffelt.
In dem Verfahren in Leipzig begründeten die Kammern aus Niedersachsen ihre – offenbar fehlerhafte – Kalkulation, die zur Bildung von Vermögen führte, daher auch mit der Entwicklung der Beitragshöhe des vom Diesel-Skandal betroffenen Automobilherstellers Volkswagen. Laut Boeddinghaus haben IHK-Vertreter in Leipzig bekannt gemacht, dass VW früher Beiträge in siebenstelliger Höhe geleistet habe, "jetzt aber nur noch einen Grundbetrag".
Gegenüber LTO bestätigte der Hauptgeschäftsführer der IHK Lüneburg-Wolfsburg, Michael Zeinert: "Hohe Gewerbeerträge bzw. Gewinne führen grundsätzlich auch zu einem höheren IHK-Beitrag. Die mit dem 'Abgas-Skandal' verbundenen Ertragsminderungen betroffener Automobilhersteller wirken sich insofern auch auf die Höhe der Beitragseinnahmen der IHK Lüneburg-Wolfsburg aus."
Eigentlich seit 2015 alles korrekt?
Eine Argumentation der Kammern, die der dffr-Geschäftsführer wenig konsistent findet, zumal es auch um Beitragsbescheide von 2011 ging, als von einem Dieselskandal noch keiner ahnen konnte.
Unterdessen beginnt bei den regionalen IHK jetzt mal wieder das Wundenlecken nach einem Gerichtsurteil. Nach dem 2015-er Urteil hatte der Spitzenverband DIHK ein sogenanntes "Risikokalkulationsmodell" (RISK) für die einzelnen Kammern entwickelt. Mit Hilfe dieses Modells sollten die Kammern die angemessene Beitragshöhe künftig eigentlich korrekt berechnen. So ganz geklappt hat das nun offenbar nicht.
Auf Nachfrage von LTO wies ein Sprecher des DIHK jegliche Verantwortung für das juristische Desaster von sich: Die einzelnen IHK hätten vielfältige gesetzliche Aufgaben, zu deren nachhaltiger Erfüllung sie auch Rücklagen bilden dürften. "Hierzu besitzen die IHKs im Rahmen des IHKG (Anm. d. Red.: Gesetz über die Industrie- und Handelskammern) Gestaltungsfreiheit, wie die Rechtsprechung bestätigt hat. Die in den letzten Jahren aufgestellten abstrakten Kriterien zur Bildung von Rücklagen standen vor dem Bundesverwaltungsgericht nicht in Frage", so der Sprecher.
Hauptgeschäftsführer Zeinert von der IHK Lüneburg-Wolfsburg kündigte unterdessen gegenüber LTO an, "zehn noch anhängige Beitragsklageverfahren" jetzt abzuschließen. "Die Beitragsbescheide werden wir aufheben, soweit sie die Jahre betreffen, über die das Gericht hier entschieden hat. Wenn die Begründung des Gerichts vorliegt, werden wir diese sehr genau analysieren und bei der Wirtschaftsplanung umsetzen", so Zeinert. Bei der IHK Braunschweig bedauerte man auf LTO-Anfrage die Entscheidung des BVerwG. "Das Urteil liefert aber für uns zumindest grundsätzlich mehr Klarheit und Orientierung für die Zukunft", so Dr. Florian Löbermann, Hauptgeschäftsführer der IHK Braunschweig. Klarheit und Orientierung – das hatte man sich auch nach dem Urteil des BVerwG von 2015 erhofft.
Hasso Suliak, BVerwG zum IHK-Vermögen: . In: Legal Tribune Online, 23.01.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/39855 (abgerufen am: 04.11.2024 )
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