Wer bei der Meldebehörde als Religion "mosaisch" angibt, tritt damit in die örtliche jüdische Gemeinde ein, auch wenn er sich mit dieser nicht identifiziert, so das BVerwG. Das ist mit seiner eigenen Entscheidung sichtlich unzufrieden.
"Rechtswirkungen der Religionsangabe 'mosaisch' gegenüber der Meldebehörde" – so müsste die Pressemitteilung eigentlich überschrieben sein, die das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) zu seiner am Mittwoch ergangenen Entscheidung herausgegeben hat (Urt. v. 21.09.2016, Az. 6 C 2.15). Ist sie aber nicht. Stattdessen steht dort eine Formel, die deutlich macht, dass die Leipziger Richter die eigene Entscheidung eigentlich für falsch und sogar für menschenrechtswidrig halten, sich jedoch durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gezwungen sahen: "Bindungswirkung eines Kammerbeschlusses des Bundesverfassungsgerichts im Hinblick auf die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)". Verständlich wird das, wenn man die Vorgeschichte kennt, die weit in die Vergangenheit zurückreicht.
Genauer gesagt bis in den Im November 2002. Damals zog ein jüdisches Ehepaar, das in Frankreich einer liberalen jüdischen Gemeinde angehörte, nach Frankfurt. Im Formular der dortigen Meldebehörde trugen sie bei dem Feld "Religion" das Wort "mosaisch" ein. Ungefähr ein halbes Jahr später begrüßte die jüdische Gemeinde Frankfurt die beiden als neue Mitglieder. Die protestierten: Sie hätten nie beabsichtigt, in die Gemeinde einzutreten; mit deren orthodoxer Haltung könnten sie sich nicht identifizieren. Vorsorglich erklärten sie Ende Oktober 2003 ihren Austritt, weigerten sich, für den Zeitraum von November 2002 bis Oktober 2003 Kirchensteuer an die Gemeinde zu entrichten und erhoben Klage, um feststellen zu lassen, dass sie nie deren Mitglieder geworden seien.
BVerwG vs. BVerfG: Streit um Erklärungsgehalt von "mosaisch"
Anders als die Vorinstanzen gab das BVerwG ihnen darin 2010 Recht (Urt. v. 23.09.2010, Az. 7 C 22.09): Es könne dahinstehen, ob das Wort "mosaisch", wie von den Klägern behauptet, eine liberale, mit den Werten der jüdischen Gemeinde Frankfurt inkompatible Strömung innerhalb des Judentums bezeichne, oder ob es lediglich ein allgemeines Bekenntnis zum jüdischen Glauben ohne Zuordnung zu einer bestimmten Ausprägung desselben darstelle. Denn auch in letzterem Fall weise es jedenfalls keinen eindeutigen Bezug auf die jüdische Gemeinde Frankfurt auf. Da es innerhalb des jüdischen Glaubens bekanntlich verschiedene Ausrichtungen gebe, die in unterschiedlichen Organisationen gelebt werden könnten, sei eine Zuordnung zu einer von ihnen nur möglich, wenn diese im Anmeldeformular hinreichend eindeutig identifiziert werde.
Dies sah das BVerfG vier Jahre später anders (Urt. v. 17.12.2014, Az. 2 BvR 278/11). Das BVerwG habe überzogene Anforderungen an die Erkennbarkeit des Willens gestellt, der jüdischen Gemeinde Frankfurt anzugehören, und diese dadurch in ihrem Selbstbestimmungsrecht aus Art. 140 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 Weimarer Reichsverfassung (WRV) verletzt. Zwar sei durch Art. 4 GG auch die negative Religionsfreiheit gewährleistet, sodass niemand gegen seinen Willen in eine Religionsgemeinschaft aufgenommen werden dürfe. Maßgeblich sei jedoch der erkennbar nach außen geäußerte Wille. Die jüdische Gemeinde Frankfurt sei die einzige jüdische Glaubensgemeinde in der Stadt; sie selbst verstehe sich zudem als Einheitsgemeinde und nicht als Vertreter lediglich einer bestimmten Ausrichtung des Judentums. Die Angabe "mosaisch" bzw. "jüdisch" gegenüber dem Meldeamt Frankfurt sei also durchaus so zu verstehen, dass ein Zuziehender Mitglied jener Gemeinde werden wolle.
2/2: BVerwG lehnt Klage zähneknirschend ab
Das überzeugt das BVerwG offenkundig nicht. In seiner Entscheidung von Mittwoch heißt es, das BVerfG habe zwar auf den objektiven Erklärungsgehalt abgestellt, sei jedoch darüber hinweg gegangen, dass das Meldeformular die Kläger nach ihrer "Religion" und nicht (wie meldegesetzlich eigentlich vorgesehen) nach ihrer "Religionsgemeinschaft" gefragt habe. Aus ihrer Erklärung, der mosaischen (jüdischen) Religion anzugehören, lasse sich aber nicht der Wunsch entnehmen, der örtlichen jüdischen Gemeinde anzugehören, unabhängig davon, ob diese die einzige in der Stadt sei und ob sie selbst sich als Einheitsgemeinde verstehe. Durch die gegenteilige Auffassung würden die Kläger in ihrer (negativen) Religionsfreiheit verletzt, die neben dem Grundgesetz auch durch Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) garantiert sei.
Nach Auffassung des BVerwG würden die Kläger durch die Zuordnung zur jüdischen Gemeinde Frankfurt in diesem Menschenrecht verletzt. Trotzdem müsse es ihre Klage ablehnen und feststellen, dass sie Mitglieder jener Gemeinde geworden seien, da die Entscheidung des BVerfG keine andere Lösung zulasse und nach § 31 Absatz 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) Bindungswirkung entfalte.
Kläger könnten EGMR anrufen
Die Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 BVerfGG erstreckt sich auf "die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden". Gemeint sind damit allerdings naturgemäß nur deutsche Gerichte, nicht hingegen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der für Verstöße gegen die EMRK zuständig ist.
Ob die Kläger diesen anrufen werden, und ob der sich den Bedenken des BVerwG anschließen wird, ist offen. Allerdings genießt die EMRK in Deutschland "nur" den Rang eines einfachen Gesetzes. Behörden und Gerichte müssen sie zwar in ihren Entscheidungen beachten und den Urteilen des EGMR zur Geltung verhelfen. Kann eine Entscheidung jedoch nur auf die eine oder auf die andere Art getroffen werden, wobei sie sich im einen Fall in Widerspruch zur Rechtsprechung des EGMR, im anderen zu der des BVerfG setzt, so geht letztere vor.
Zu einer entfernt vergleichbaren Konfliktlage war es bereits 2012 gekommen: Damals stufte die Große Kammer des EGMR eine deutsche Bestimmung zum Jagdrecht als menschenrechtswidrig ein (Urt. v. 26.06.2012, Az. 9300/07), nachdem das BVerfG eine gegen diese Bestimmung gerichtete Verfassungsbeschwerde zuvor nicht zur Entscheidung angenommen hatte (Urt. v. 13.12.2006, Az. 1 BvR 2084/05). Eine zweite, spätere Verfassungsbeschwerde musste das BVerfG in der Sache nicht mehr entscheiden, da der deutsche Gesetzgeber die Bestimmung nach dem Urteil des EGMR anpasste (BVerfG Erledigungsbeschluss v. 23.11.2015, Az. 1 BvR 1795/08). Auch damals ging es übrigens um eine Mitgliedschaft wider Willen – in einem gemeinsamen Jagdbezirk.
Constantin Baron van Lijnden, BVerwG zum Beitritt in Religionsgemeinschaft: Gemeindemitglied wider Willen . In: Legal Tribune Online, 22.09.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/20660/ (abgerufen am: 01.07.2024 )
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