2/2: Zuständigkeit auch bei wiederholter Antragstellung?
Vorliegend hatte jedoch Belgien schon über den Antrag in der Sache entschieden. Daher stellte sich die Frage, ob diese Zuständigkeitsbestimmung dennoch Anwendung findet. Es macht immerhin einen Unterschied, ob es darum geht, wer erstmals entscheidet, oder ob erneut entschieden werden soll. Ein zentrales Anliegen der europarechtlichen Regelungen ist es ja gerade zu verhindern, dass Asylanträge mehrfach in verschiedenen Mitgliedstaaten geprüft werden.
Der EuGH hatte festgestellt, dass die Auslegung von Art. 6 Abs. 2 nicht zur Folge habe, dass der unbegleitete Minderjährige, dessen Asylantrag schon in einem ersten Mitgliedstaat in der Sache zurückgewiesen wurde, anschließend einen anderen Mitgliedstaat zur Prüfung eines Asylantrags zwingen könnte. Ein identischer Antrag ist nach einer rechtskräftigen Entscheidung nicht erneut zu prüfen.
Somit bleibt es für den Fall einer "nicht-identischen" Antragstellung bei der Zuständigkeitsregelung des Art. 6 Abs. 2 Dublin II-VO. Das ist nachvollziehbar, da es für die Frage, wo ein Verfahren sinnvollerweise durchgeführt werden soll, keinen Unterschied macht, ob es in der Vergangenheit bereits ein inhaltlich abweichendes Verfahren gegeben hat.
Sonderfunktion des Minderjährigenschutzes
Das BVerwG geht jedoch noch weiter. Auch bei "identischen" Asylanträgen bleibt es nach seiner Entscheidung bei der Zuständigkeit nach Art. 6 Abs. 2 Dublin II-VO. In Anlehnung an die bereits genannte Entscheidung des EuGH betont das BVerwG die Sonderrolle des Minderjährigenschutzes innerhalb der ansonsten auf Organisation und Effizienz ausgelegten Zuständigkeitskriterien der Dublin II-VO. Den Zuständigkeitsbestimmungen komme in dieser Konstellation auch grundrechtsschützende Wirkung zu. Dies betrifft insbesondere die Berücksichtigung des Kindeswohls nach Art. 24 Abs. 2 der EU Grundrechtecharta.
Somit sind die speziellen Zuständigkeitsregelungen für Minderjährige, anders als etwa die Fristen-Regelungen im Asylverfahren, auch individualschützend.
Zuständigkeit ist nicht Zulässigkeit
Im Ergebnis läuft das auf eine feinsinnige Unterscheidung hinaus. Es bleibt, nach der Dublin II-VO, bei der Zuständigkeit auch bei identischen Anträgen, aber diese können gemäß Art. 25 (jetzt: Art. 33) der Verfahrens-RL, als unzulässig behandelt werden. (Die etwas abenteuerlichen Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts Saarlouis, wonach die unter Umständen konfligierende Verfahrens-Richtlinie "Im Rang unter der Verordnung" stehe, übernimmt das BVerwG glücklicherweise nicht.)
Auf den ersten Blick scheint der Unterschied, ob ein Asylantrag abgelehnt wird, weil er wegen anderweitiger internationaler Zuständigkeit unzulässig ist (§ 27a AsylG), oder weil er als Zweitantrag ohne Änderung der Sach- und Rechtslage unbegründet ist (§ 71a AsylG), marginal. Eine Ablehnung erfolgt in beiden Fällen ohne großen Verfahrens- und Prüfungsaufwand.
Anders sieht es bei den Rechtsfolgen aus. Bei einer Entscheidung nach § 27a AsylG wird der Asylsuchende in den zuständigen Mitgliedstaat überführt. Wird der Zweitantrag negativ nach § 71a AsylG beschieden, droht die Abschiebung in jeden aufnahmebereiten Staat, einschließlich des Herkunftsstaates.
Es macht also einen Unterschied, ob Deutschland unzuständig ist oder den Antrag, gegebenenfalls mangels neuer Gründe ohne erneutes Verfahren, ablehnt.
Individualschützende Regelungen und effektiver Rechtsschutz
Das BVerwG unterscheidet bei der Anwendung des Dublin-System somit zwischen Normen, die subjektive Rechte verleihen und solchen ohne individualschützendem Charakter. Grundsätzlich handelt es sich um ein an die Mitgliedstaaten adressiertes Organisationssystem. Im Einzelfall können dem Einzelnen daraus aber Rechte erwachsen. Diese Einteilung lässt sich auch problemlos auf die überarbeitete Dublin III-VO übertragen. Hinsichtlich etwaiger Rechtsschutzlücken bei den nicht-individualschützenden Regelungen kann auf die Rechtsschutzmöglichkeiten im Vollstreckungsverfahren verwiesen werden.
Im erstinstanzlichen Urteil des Verfahrens wurde von einer Verletzung subjektiver Rechte aufgrund einer fehlerhaften Ermessensausübung des BAMF hinsichtlich des Selbsteintrittsrechts aus Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO ausgegangen. Dieses eröffnet Mitgliedstaaten die Möglichkeit, einen Asylantrag zu prüfen, auch wenn sie nach den Dublin Regelungen eigentlich gar nicht zuständig wären. Eine solche quasi-Generalklausel hätte eine gänzliche Subjektivierung der Dublin-Regelungen zur Folge, da jegliche Anwendung der Regelungen vor der Möglichkeit eines individualschützenden Selbsteintrittes zu prüfen wäre. Eine so weitgehende Subjektivierung der Zuständigkeitsregelungen war dem BVerwG dann wohl doch zu viel.
Für den Minderjährigen im aktuellen Fall bedeutet dies, dass Deutschland für seinen Asylantrag zuständig ist und er nicht nach Belgien abgeschoben wird.
Der Autor Tobias Klarmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr. Daniel Thym für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht an der Universität Konstanz und Mitglied des dortigen Forschungszentrums Ausländer- und Asylrecht (FZAA). Er promoviert zur Illegalisierung im europäischen Migrationsrecht.
BVerwG bejaht Individualschutz der Dublin-Verordnung: . In: Legal Tribune Online, 17.11.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17561 (abgerufen am: 05.11.2024 )
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