Das BVerwG hat entschieden, dass die Regeln der Dublin II-VO über Minderjährige individualschützende Wirkung haben – auch dann, wenn ein Minderjähriger mehrfach Anträge in verschiedenen Mitgliedstaaten stellt. Von Tobias Klarmann.
Das sogenannte Dublin System wackelt. Seit geraumer Zeit besteht ein erhebliches Vollzugsdefizit. Mitgliedstaaten ignorieren ihre Zuständigkeit. Nach Griechenland wird nicht mehr rücküberstellt. Auch Überstellungen nach Italien und Ungarn wurden teils ausgesetzt. Die Verteilung in Deutschland Asyl suchender Syrer wurde zwischenzeitlich generell ausgesetzt. Viel scheint nicht mehr übrig zu sein von dieser zentralen Säule des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, die die offenen Grenzen des Schengen-Abkommens komplementieren sollte.
Unabhängig davon, ob man das absehbare Scheitern des Dublin-System als Verlust ansieht, ist es weiterhin geltendes Recht. Es verwundert daher nicht, dass in den letzten Wochen vermehrt Entscheidungen aus Leipzig kamen, in denen sich das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) mit Regelungen des Dublin-Systems auseinandersetzte.
Zunächst urteilte es, dass die in § 34a Asylverfahrensgesetz (jetzt: Asylgesetzt - AsylG) zwingend vorgesehene Abschiebungsanordnung europarechtskonform ist, wobei eine Überstellung auf eigene Initiative zumindest im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung der Maßnahme berücksichtigt werden muss (Urt. v. 17.09.2015, Az. 1 C 26.14). Kurz darauf stellte es fest, dass die Fristen im Dublin-Verfahren nicht individualschützend sind (Urtt. v. 27.10.2015, Az. 1 C 32.14, 1 C 33.14 und 1 C 34.14). Nun folgt ein weiteres Urteil, in welchem das BVerwG sich mit dem Minderjährigenschutz in der Dublin II-Verordnung (Dublin II-VO) auseinandersetzt (Urt. v. 16.11.2015, Az. 1 C 4.15).
Nicht immer ist Einreisestaat zuständig
In dem Verfahren geht es um einen zum maßgeblichen Zeitpunkt noch minderjährigen unbegleiteten Asylsuchenden. Dieser flüchtete 2008 aus dem Irak nach Europa und ersuchte erfolglos um Asyl in Belgien, Schweden und Finnland, bevor er 2010, wiederum aus Belgien kommend, einen Asylantrag in Deutschland stellte.
Belgien erklärte sich mit der Wiederaufnahme einverstanden, woraufhin das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die Unzulässigkeit des Antrages feststellte und die Abschiebung nach Belgien anordnete.
Anders als oftmals pauschal dargestellt, ist nicht immer der Mitgliedstaat, welcher zuerst betreten wurde, für das Asylverfahren zuständig. Es besteht ein relativ ausdifferenziertes System an Kriterien, in welchem insbesondere Familienanbindung eine gewichtige Rolle spielt.
Für unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge sieht die Dublin-II VO in Art. 6 zwei vom Regelfall abweichende Kriterien vor: Nach Abs. 1 ist der Mitgliedstaat zuständig, in dem sich ein Angehöriger rechtmäßig aufhält. Nach Abs. 2 ist, wenn kein Familienangehöriger anwesend ist, der Mitgliedstaat zuständig, in dem der Minderjährige seinen Asylantrag gestellt hat.
Bruder ist kein "Familienangehöriger"
Der Asylsuchende in diesem Fall hatte einen Bruder mit einer Niederlassungserlaubnis in Deutschland. Geschwister sind nach Art. 2 lit. i) Dublin II-VO jedoch keine Familienangehörigen.
2011 wurde der Bruder des Asylsuchenden jedoch zu dessen Vormund bestellt – und ein solcher ist nach Art. 2 lit i) Dublin II-VO als Familienangehöriger anerkannt. Dennoch hielt das BAMF an seiner Entscheidung fest.
Der relevante Beurteilungszeitpunkt ist nach Art. 5 Abs. 2 Dublin II-VO der Zeitpunkt der ersten Antragstellung. Diese erfolgte 2008 in Belgien. Damals war der Bruder noch nicht zum Vormund bestellt und somit auch kein Familienangehöriger im Sinne der Dublin II-VO.
In der zwischenzeitlich in Kraft getretenen Dublin III-VO wurde das geändert. Zwar sind Geschwister auch dort nicht explizit als Familienangehörige definiert, aber bei Minderjährigen werden Erwachsene, welche "nach dem Recht oder nach den Gepflogenheiten des Mitgliedstaates" für den Minderjährigen verantwortlich sind, anerkannt. Außerdem indizieren nun, gem. Art. 8 Abs. 1 Dublin III-VO, neben dem erweiterten Kreis der Familienangehörigen, auch Geschwister mit rechtmäßigem Aufenthalt die Zuständigkeit des Mitgliedstaates.
Der engere Anwendungsbereich in der Dublin II-VO verhinderte jedoch noch eine Zuständigkeit aus Art. 6 Abs. 1 Dublin II-VO.
Zuständigkeit bei Minderjährigen = Antragstellung + Aufenthalt
Entscheidend ist daher die zweite Konstellation (Art. 6 Abs. 2 Dublin II-VO), wonach der Mitgliedstaat zuständig ist, in dem der Minderjährige seinen Asylantrag gestellt hat. Das ist zweifelsfrei in Deutschland der Fall. Ebenso jedoch in Belgien, Schweden und Finnland. Anders als in Art. 5 Abs. 2 Dublin II-VO ("seinen Antrag zum ersten Mal … stellt"), steht in Art. 6 Abs. 2 nur "seinen Asylantrag gestellt hat". Aus dieser Abweichung hat der Europäische Gerichtshof (EuGH, Urt. v. 06.06.2013, Az. C-648/11) in Verbindung mit Kindeswohlerwägungen gefolgert, dass Art. 6 Abs. 2 Dublin II-VO so auszulegen sei, "dass er denjenigen Mitgliedstaat als zuständigen Staat bestimmt, in dem sich der Minderjährige aufhält, nachdem er dort einen Asylantrag gestellt hat".
Zuständig ist danach im Falle einer mehrfachen Antragstellung der Mitgliedstaat, in welchem sich der Minderjährige aufhält. Bei parallel laufenden Anträgen führt dies hinsichtlich der besonderen Interessen unbegleiteter Minderjähriger und dem Ziel effizienter, zügiger Verfahren zu sachgerechten Ergebnissen.
BVerwG bejaht Individualschutz der Dublin-Verordnung: . In: Legal Tribune Online, 17.11.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17561 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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