BVerwG zum neuen Ausweisungsrecht: Gene­ral­präv­en­tion kann Auf­ent­halt­s­er­laubnis ent­ge­gen­stehen

Gastbeitrag von Marcel Keienborg

13.07.2018

Ausweisungen um andere Ausländer von rechtswidrigem Verhalten abzuschrecken, sollen auch weiterhin zulässig sein, hat das BVerwG entschieden. Allerdings könnte ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht greifen, erläutert Marcel Keienborg.   

Im Ausländerrecht können generalpräventive Gründe auch nach dem seit 2016 geltenden neuen Ausweisungsrecht ein Ausweisungsinteresse begründen, das der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis regelmäßig entgegensteht. Um die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 12. Juli 2018 (Az. 1 C 16.17) verstehen und einordnen zu können, ist es zunächst erforderlich, zu verstehen, was eine Ausweisung ist, und welche Rolle sie im Aufenthaltsrecht spielt.

Umgangssprachlich werden nämlich die Begriffe Ausweisung und Abschiebung häufig synonym gebraucht, was aber nach deutschem Aufenthaltsrecht falsch ist. Die Ausweisung ist ein Verwaltungsakt, mit dem eine Ausländerbehörde einen Aufenthaltstitel zum Erlöschen bringen und ein Verbot zur Erteilung eines neuen Aufenthaltstitels verhängen kann. Der Adressat wird hierdurch ausreisepflichtig. Sie kann also die Abschiebung vorbereiten. Die Abschiebung selbst ist ein Zwangsmittel zur Durchsetzung der Ausreisepflicht. Denkbar ist dabei sowohl eine Ausweisung ohne folgende Abschiebung, beispielsweise, weil der Herkunftsstaat nicht bereit ist, den Betroffenen aufzunehmen. Es gibt aber auch Abschiebungen ohne vorherige Ausweisung, wenn die Ausreisepflicht aus einem anderen Grunde besteht, beispielsweise nach Ablehnung eines Asylantrages.

Geregelt ist das Ausweisungsrecht in den §§ 53 ff. Aufenthaltsgesetz (AufenthG). Voraussetzung für eine Ausweisung ist nach neuem Recht ein sogenanntes Ausweisungsinteresse. Nach § 53 Abs. 1 AufenthG ist ein Ausländer, "dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet", auszuweisen, "wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt." Voraussetzung ist also, dass das sogenannte Ausweisungsinteresse (§ 54 AufenthG) das sogenannte Bleibeinteresse (§ 55 AufenthG) überwiegt.

Verletzung der Residenzpflicht

Zusätzlich kompliziert wird die Sache dadurch, dass das Ausweisungsinteresse auch an anderer Stelle im Aufenthaltsrecht eine wesentliche Rolle spielt. Denn nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG setzt die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraus, dass kein Ausweisungsinteresse besteht. Also auch, wenn zwar ein Ausweisungsinteresse besteht, aber der Ausländer trotzdem nicht ausgewiesen worden ist oder auch nicht ausgewiesen werden kann, weil beispielsweise das Bleibeinteresse überwiegt, darf nach dem Wortlaut der Vorschrift grundsätzlich kein Aufenthaltstitel erteilt werden.

Einen solchen Fall betrifft nunmehr das Urteil des BVerwG vom Dienstag. Der Kläger ist ein Nigerianer, der seit 2009 in Deutschland lebt und erfolglos Asylverfahren betrieb. Er wurde anschließend geduldet, da es an den für eine Abschiebung erforderlichen Papieren fehlte. 2010 und 2011 erhielt er jeweils einen Strafbefehl wegen einer Verletzung der sogenannten Residenzpflicht, er hatte also ohne Erlaubnis der Ausländerbehörde deren Bezirk verlassen. Dies wurde mit Geldstrafe, beim ersten Mal mit zehn, beim zweiten Mal mit zwanzig Tagessätzen geahndet.

2013 dann wurde er Vater eines deutschen Kindes. Jetzt beantragte er auch eine Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung der elterlichen Sorge gemäß § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG. Dabei legte er einen Pass vor. Die in dem Pass angegebene Identität entsprach allerdings nicht der Identität, unter der er seinen Asylantrag gestellt und bislang in Deutschland gelebt hat, was er denn auch eingeräumt hat.

Vortäuschung der Identität

Die zuständige Ausländerbehörde lehnte die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis ab. Ein gegen diese Ablehnung erhobener Widerspruch blieb ebenso erfolglos wie die folgende Klage in der ersten Instanz (VG Sigmaringen, Urt. v. 17.03.2016, Az. 3 K 496/14). Hierbei wurden insbesondere generalpräventive Überlegungen angestellt: Zwar besteht keine Gefahr mehr, dass gerade der Kläger dieses Falles noch einmal über seine Identität täuschen würde, nachdem er ja jetzt seine wahre Identität offengelegt hat. Ein Ausweisungsinteresse bestehe aber dennoch, um andere vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer von der Begehung vergleichbarer Taten abzuhalten.

In der Berufung vor dem Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg hatte der Kläger hingegen Erfolg. Mit Urteil vom 19.April 2017 (Az. 11 S 1967/16), verpflichtete der VGH die Ausländerbehörde zur Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis. Zur Begründung führt der VGH zunächst aus, dass die Regelerteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG so wie auch nach früherem Recht einschränkend dahin auszulegen sei, dass die Vorschrift der Gefahrenabwehr diene, und daher "zukunftsbezogen" verstanden werden müsse. Ein Ausweisungsinteresse in diesem Sinne liege also nur vor, wenn aktuell auch noch eine Gefahr im gefahrenabwehrrechtlichen Sinne vorliegt.

Der VGH stellt dabei maßgeblich auf den Wortlaut des § 53 Abs. 1 S. 1 AufenthG ab: Das Gesetz verlange demnach, dass von dem Aufenthalt gerade des Ausländers eine Gefahr ausgehe. Aus Ausweisungsinteresse allein aus generalpräventiven Erwägungen sei mit diesem Wortlaut unvereinbar. Ausführlich begründet der VGH, warum er es auch für unzulässig hält, die Vorschrift im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung auf diese Fallgruppe zu erstrecken. Die Geldstrafen hielt der VGH schon wegen Tilgungsreife für unbeachtlich.

Generalpräventive Erwägungen maßgeblich

Der VGH selbst hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen, und so kam es dann jetzt zu der Entscheidung des BVerwG. Das BVerwG hat das Urteil des VGH aufgehoben und den Rechtsstreit zurückverwiesen. Denn der Wortlaut des § 53 Abs. 1 AufenthG setze eben nicht voraus, dass die Gefahr von dem Ausländer selbst ausgehen müsse, sondern von seinem Aufenthalt. Damit sei eben auch ein allein auf generalpräventive Erwägungen gestütztes Ausweisungsinteresse vereinbar, was zudem auch dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers entspreche.

Zwar sei es zutreffend, dass das Ausweisungsinteresse noch aktuell sein müsse. Bei Ausweisungsinteressen mit Bezug zu Straftaten orientiere sich die Aktualität jedoch an den strafrechtlichen Vorschriften zur Verfolgungsverjährung, wobei die Tilgungsfristen nach dem Bundeszentralregistergesetz (BZRG) eine absolute Obergrenze für abgeurteilte Straftaten bilden. Das BVerwG meint damit offensichtlich die Identitätstäuschung und nicht die Residenzpflichtverletzungen, wobei die strafrechtliche Dimension des Falles jedenfalls in der bislang allein vorliegenden Pressemitteilung nicht näher ausgeführt wird.

Dennoch hat das BVerwG die Klage nicht abgewiesen. Nach der Entscheidung dürfte der Kläger, jedenfalls ohne Aus- und Wiedereinreise auf legalem Wege, kaum noch eine Möglichkeit haben, die begehrte Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG zu erlangen. Einen "Rettungsanker" könnte es für ihn jedoch noch geben: Laut BVerwG stehe dem Nigerianer möglicherweise ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht zu. Über dieses zu urteilen, sahen sich die Leipziger Richter jedoch mangels der erforderlicher tatrichterlicher Feststellungen seitens der Vorinstanz gehindert. Darüber muss nun der VGH Baden-Württemberg entscheiden.

Der Autor Marcel Keienborg ist Rechtsanwalt und Lehrbeauftragter an der Uni Düsseldorf. Sein Tätigkeitsschwerpunkt ist das Migrationsrecht.

Zitiervorschlag

BVerwG zum neuen Ausweisungsrecht: . In: Legal Tribune Online, 13.07.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/29759 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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