16- und 17-Jährige durften 2014 in Heidelberg an den Wahlen zum Gemeinderat teilnehmen. Deswegen zogen klagende Bürger bis vor das BVerwG. Warum sie auch dort verloren haben, erläutert Sebastian Roßner.
"Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern!" So formuliert Friedrich Schiller in "Wilhelm Tell" den berühmten Rütlischwur der Bauern aus den Urkantonen Uri, Schwyz und Unterwalden, mit dem nach der Überlieferung das Volk der Schweizer sich selbst schuf. In der Gedankenwelt von Aufklärung und Französischer Revolution, in der Schiller wurzelt, wird eine Nation durch politischen Willensakt von Menschen geschaffen. Wer Teil der Nation ist und wer nicht, ist daher eine politische Frage, die erhebliche Tragweite hat: Denn von der Antwort hängt ab, wer in Wahlen und Abstimmungen als aktiver Bürger in Betracht kommt, um über das gemeinsame Schicksal mitzubestimmen. Die politische Natur des Volksbegriffes sorgt dafür, dass es keine endgültigen Antworten gibt. Gleiches gilt für die Frage, wer konkret von den Mitgliedern der Nation das Wahlrecht ausüben darf. Der rechtliche Ort, an dem diese Konflikte ausgetragen werden, ist das Verfassungs- und Wahlrecht.
Jüngst ist der Streit um den Volksbegriff und die Wahlberechtigung wieder entbrannt - und zwar im beschaulichen Heidelberg. Im Zentrum des Konflikts steht § 12 Abs. 1 Gemeindeordnung Baden-Württemberg (GemO BW). Diese Norm definiert, wer Bürger einer baden-württembergischen Gemeinde ist und somit gemäß § 14 GemO BW das aktive und passive Wahlrecht bei den Gemeindewahlen innehat. Seit 2013 billigt § 12 Abs. 1 GemO BW allen Deutschen im Sinne von Art. 116 GG und allen Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Gemeindebürgerschaft zu, die das 16. Lebensjahr vollendet sowie seit mindestens drei Monaten ihren Wohnsitz in der fraglichen Gemeinde haben. Auf Basis dieser Regelungen fanden im Mai 2014 in Heidelberg Wahlen zum Gemeinderat statt.
Ein Gruppe von Heidelberger Bürgern erhob Klage mit den Antrag, das Land zu verpflichten, die Gemeinderatswahlen für ungültig zu erklären und zu wiederholen. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) wies die Revision zurück, nachdem die Klage und die Berufung (VG Karlsruhe, Urt. v. 11.05.2016, Az. 4 K 2062/14 und VGH Mannheim, Urt. v. 12.07.2017, Az. 1 S 1240/16) bereits ohne Erfolg geblieben waren. Die Regelung des baden-württembergischen Kommunalrechts, nach der auch unter 18-Jährige an den Kommunalwahlen teilnehmen dürfen, sei rechtmäßig, so die Leipziger Richter (Urt. v. 13.06.2018, Az. 10 C 8.17).
Vom Volksbegriff der Verfassung
Die Kläger führten im wesentlichen drei Argumente an, um ihre Begehren zu begründen:
Das Demokratieprinzip nach Art. 20 Abs. 2 GG fordere, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgehe. Es verstoße daher gegen das Grundgesetz, Personen an den demokratischen Wahlen und Abstimmungen teilnehmen zu lassen, die nicht zum Volk gehören. Als Volk in diesem demokratischen Sinne verstehe das Grundgesetz nur die Deutschen im Sinne von Art. 116 Abs. 1 GG, die das Wahlrecht innehaben, die also zumindest das nach Art. 38 Abs. 2 GG erforderliche Alter von achtzehn Jahren für das aktive Wahlrecht beziehungsweise die Volljährigkeit (die in § 2 BGB geregelt ist und gleichfalls mit achtzehn Jahren eintritt) erreicht haben.
Weil das Demokratiegebot über Art. 28 Abs. 1 GG auch für die Kommunen verbindlich ist, gelte derselbe Volksbegriff auch für die Gemeinden. Die Kläger leiten also aus der Formulierung von Art. 20 Abs. 1 S. 1 GG "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus" den weiteren Satz ab: "Nur wer Staatsgewalt ausübt, gehört zum Volk." Logisch zwingend ergibt sich dies nicht und die angerufenen Gerichte lehnten die Argumentation der Kläger zu Recht ab, die nämlich darauf hinausliefe, den Volksbegriff des Grundgesetzes rechtlich zu verkürzen. Das deutsche Volk wird nach der Vorstellung des Grundgesetzes gebildet von den Deutschen im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG, also von den Inhabern der deutschen Staatsangehörigkeit sowie den sogenannten Statusdeutschen.
Die deutsche Volkszugehörigkeit ist damit nicht nur eine notwendige Bedingung für die Ausübung des Wahlrechts, sondern sie vermittelt auch die Inhaberschaft an einer Reihe von Grundrechten, wie etwa der Versammlungs-, der Vereinigungs- oder der Berufsfreiheit. Auch die Verpflichtung auf die universal geltenden Menschenrechte aus Art. 1 Abs. 2 GG bezieht sich auf das deutsche Volk.
Zudem würde es den Gestaltungsspielraum des Landesgesetzgebers unzulässig einengen, wenn man die Wertung von Art. 38 Abs. 2 GG, die für Bundestagswahlen getroffen wurde, auch für Wahlen auf Landes- und Kommunalebene verbindlich machen wollte.
Sind 16- und 17-Jährige reif genug?
Weiterhin habe nach Ansicht der Kläger auch dann, wenn man davon ausgehe, dass eine Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre nicht grundsätzlich verfassungsrechtlich untersagt sei, der Landesgesetzgeber sein gesetzgeberisches Ermessen in einer Weise ausgeübt, die gegen die Wahlgrundsätze verstoße, welche gemäß Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG auch für die Kommunalwahlen gelten.
Hier kommt vor allem der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl in Betracht, der zwar im Kern verbietet, den Kreis der Wahlberechtigten ohne zwingenden Grund zu begrenzen, der aber nach der vom VG Karlsruhe, dem VGH Mannheim und nun auch vom BVerwG vertretenen Ansicht auch für den Fall einen rechtlichen Maßstab bildet, dass das Wahlalter abgesenkt werden soll. In diesem Fall, so die Gerichte, sei der Gesetzgeber gehalten, ein Wahlalter zu wählen, das ein Mindestmaß an Reife und Urteilskraft der Wähler gewährleiste.
Dieser Pflicht ist der baden-württembergische Kommunalwahlgesetzgeber nach den Feststellungen der Gerichte aber nachgekommen, weil er bei seiner Entscheidung die Erkenntnisse der Jugendpsychologie berücksichtigt habe.
Aber auch wenn man den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl nicht auf eine Ausdehnung der Wahlberechtigung für anwendbar hält, sondern eine ungeschrieben Pflicht des Gesetzgebers annimmt, für die eine funktionsgerechte Gestaltung des Wahlrechts zu sorgen, ist den Gerichten darin zuzustimmen, dass der baden-württembergische Gesetzgeber sich innerhalb der Grenzen seines Gestaltungsspielraumes bewegt hat.
Das Recht steht jedenfalls nicht im Wege
Schließlich, so die Kläger, verstoße die Ausdehnung des Kommunalwahlrechts auf 16- und 17-Jährige gegen die baden-württembergische Verfassung, die in Art. 26 Abs. 1 das Wahlalter für das Land auf achtzehn Jahre festlegt. Wie der VGH Mannheim im Berufungsurteil feststellte, würdigten die Kläger dabei jedoch Art. 26 Abs. 8 Landesverfassung Baden-Württemberg (LV BW) nicht richtig, der für Abstimmungen und Wahlen in Kreisen und Gemeinden auf Art. 72 LV BW verweist. Art. 72 Abs. 3 LV BW – so der VGH - ermächtige den Landesgesetzgeber jedoch, das Kommunalwahlrecht und damit auch das Wahlalter zu regeln.
Entsprechend entschieden die Leipziger Richter wie auch ihre Vorinstanzen richtig. Die Kläger unterliegen einem Fehlschluss, wenn sie aus dem Grundsatz der Volkssouveränität in Art. 20 Abs. 2 GG ableiten wollen, dass nur wer aktiv Souveränität ausüben darf, auch Mitglied des Volkes sei. Um den Volksbegriff geht es bei dem Heidelberger Zwist in Wirklichkeit nicht. Um die eigentliche Frage, ob man die Absenkung des Wahlalters auf sechzehn Jahre für wünschenswert hält, kann man indes heftig streiten. Dieser Streit ist aber politischer Natur, weshalb die Gerichte gut daran getan haben, lediglich festzustellen, dass der Gesetzgeber sich innerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens bewegt hat.
Der Autor Dr. Sebastian Roßner ist Habilitand am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechtstheorie und Rechtssoziologie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Sebastian Roßner, BVerwG zum kommunalen Wahlrecht für Minderjährige in Baden-Württemberg: . In: Legal Tribune Online, 14.06.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/29153 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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