Bevor sie sich von der Börse zurückziehen konnten, mussten Unternehmen bisher ihre Aktionäre befragen und ihnen eine angemessene Entschädigung anbieten. Verfassungswidrig sind diese Anforderungen nicht, entschied das BVerfG am Mittwoch. Dennoch könnte diese Macrotron-Rechtsprechung des BGH nun kippen, hoffen Oliver Seiler und Jonas Wittgens.
Das Gesetz regelt die gesellschaftsrechtlichen Voraussetzungen eines so genannten Delisting nicht. Der Bundesgerichtshof übernahm es daher vor etwa zehn Jahren in seiner Macrotron-Entscheidung, die vermeintliche Lücke zu schließen, wenn ein Unternehmen die Zulassung von Aktien einer Gesellschaft zum Handel im staatlich überwachten regulierten Markt widerrufen will (BGH, Urt. v. 25.11.2002, Az. II ZR 133/01).
Nach Ansicht der Karlsruher Richter beeinträchtigt ein Delisting die Aktionäre, weil mit dem Wegfall der Börsennotierung die Möglichkeit zur jederzeitigen Verfügung über ihre Aktien eingeschränkt werde. Damit werde in das Aktieneigentum (Art. 14 Grundgesetz, GG) eingegriffen. Ein solcher Eingriff sei nur zulässig, wenn die Hauptversammlung dem Delisting zustimmt und den Aktionären angeboten wird, ihre Aktien zu einem angemessenen Preis zu veräußern. Zudem müsse in einem gerichtlichen so genannten Spruchverfahren die Angemessenheit der angebotenen Abfindung überprüft werden können.
Zur Begründung berief sich der II. Zivilsenat des BGH auf Vorschriften im Aktien- und Umwandlungsgesetz, die entsprechende Maßnahmen zum Schutz der Minderheitsaktionäre vorsehen.
Delisting nach Macrotron
"Delistingwillige" Unternehmen und ihre anwaltlichen Berater mussten sich seitdem mit der Frage befassen, ob auf einen Hauptversammlungsbeschluss und ein Abfindungsangebot verzichtet werden kann.
Die Anforderungen aus Karlsruhe wurden nämlich in den vergangenen Jahren zunehmen in Frage gestellt. Die Macrotron-Entscheidung hat Delisting-Fälle zu einem beliebten und häufig lukrativen Feld für Berufskläger und Spekulanten gemacht. Neben der Anfechtung des nach Auffassung des BGH erforderlichen Hauptversammlungsbeschlusses haben diese in aller Regel ein Spruchverfahren eingeleitet, um eine höhere Abfindung zu erstreiten.
Nach Entscheidungen von Oberlandesgerichten gelten die Macrotron-Grundsätze nicht bei einem Wechsel vom Regulierten Markt in das Segment m:access der Börse München (OLG München, Beschl. v. 21.5.2008, Az. 31 Wx 62/07) oder vom Regulierten Markt in den Entry Standard des Freiverkehrs der Frankfurter Wertpapierbörse (FWB) (KG Berlin, Beschl. v. 30.04.2009, Az. 2 W 119/08).
Ein Handel mit Aktien sei auch in diesen besonderen Freiverkehrssegmenten möglich, so dass das Aktieneigentum durch den Rückzug aus dem Regulierten Markt nicht beeinträchtigt werde. Anwendung sollten die Macrotron-Grundsätze dagegen dann nach wie vor finden, wenn die Aktien nach dem Delisting lediglich noch im allgemeinen Freiverkehr der FWB notiert werden (OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 20.12.2011, Az. 21 W 8/11).
BVerfG: Kein Anspruch der Aktionäre auf Handelbarkeit ihrer Aktien im Regulierten Markt
Mit Urteil vom 11. Juli 2012 (Az. 1 BvR 3142/07 und 1 BvR 1569/08) hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Macrotron-Rechtsprechung des BGH in entscheidenden Punkten für unrichtig, im Ergebnis aber nicht für verfassungswidrig erklärt:
Fundamental vom BGH abweichend, sieht das BVerfG in der tatsächlichen Verkehrsfähigkeit von Aktien eine "schlichte Ertrags- und Handelschance", die das Aktieneigentum nicht berührt. Von Art. 14 GG geschützt sei nur die rechtliche Befugnis, diese jederzeit veräußern zu können. In welchem Markt – ob börslich oder außerbörslich – dies möglich ist, ist nach Auffassung des BVerfG unerheblich.
Der Fortbestand von Marktchancen ist also verfassungsrechtlich nicht geschützt. Es bedarf daher auch keiner besonderen Maßnahmen, um die Aktionäre im Zuge eines Delisting zu beteiligen oder zu entschädigen.
Richterliche Rechtsfortbildung: Zulässig und erwünscht
Für verfassungswidrig hält das höchste deutsche Gericht die vom BGH postulierten Macrotron-Grundsätze dennoch nicht. Es sei zwar verfassungsrechtlich nicht geboten, aber zulässig, ein Abfindungsangebot und dessen Überprüfbarkeit im Spruchverfahren anzuordnen.
Für eine solche richterliche Rechtsfortbildung besteht angesichts der lückenhaften gesetzlichen Regelungen ausreichend Spielraum, den der BGH ausgefüllt habe, so die Verfassungsrichter.
Konsequenterweise stellt das BVerfG daher am Ende seiner Entscheidung fest: "Es bleibt der weiteren Rechtsprechung der Fachgerichte überlassen, auf der Grundlage der mittlerweile gegebenen Verhältnisse im Aktienhandel zu prüfen, ob die qualifizierte Spruchpraxis Bestand hat und zu beurteilen, wie der Wechsel vom regulierten Markt in den qualifizierten Freiverkehr in diesem Zusammenhang zu bewerten ist."
Künftige Delisting-Fälle: Auf hoher See und vor Gericht …
Mit dem Urteil ist zwar nicht entschieden, ob die Fachgerichte auch in Zukunft in Delisting-Fällen einen Hauptversammlungsbeschluss und eine angemessene Abfindung fordern werden. Naheliegend und im Anschluss an die Karlsruher Entscheidung folgerichtig wäre es allerdings, wenn die Gerichte darauf verzichteten:
Es steht nun höchstrichterlich fest, dass die tatsächliche Verkehrsfähigkeit von Aktien kein Bestandteil des verfassungsrechtlich geschützten Anteilseigentums ist. Damit entfällt der einstige leitende Gesichtspunkt für die Statuierung der Macrotron-Grundsätze.
Wenn Aktionäre durch das Delisting aber nicht in rechtlich erheblicher Weise in ihrer Rechtsposition beeinträchtigt werden können, bedarf es auch keiner Maßnahmen zu ihrem Schutz. Das Delisting ist dann schlicht eine vom Vorstand zu treffende unternehmerische Entscheidung wie andere geschäftspolitische Entscheidungen auch; dass die Vor- und Nachteile eines Delisting vom Vorstand sorgsam abgewogen werden müssen, ist selbstverständlich.
Die Chancen für Unternehmen, bei einem Delisting künftig ohne Abfindungsangebot auszukommen, dürften nach dem Urteil des BVerfG jedenfalls gestiegen sein.
Der Autor Dr. Oliver Seiler, LL.M. (Cornell University) ist Rechtsanwalt und Partner bei Allen & Overy LLP, Frankfurt am Main. Er leitet den Bereich Equity Capital Markets (ECM) in Deutschland und ist Co-Head ECM EMEA.
Der Autor Dr. Jonas Wittgens ist Rechtsanwalt bei Allen & Overy LLP, Hamburg. Er berät Unternehmen insbesondere im Aktien-, Umwandlungs-, Übernahme- und Kapitalmarktrecht und damit zusammenhängenden Rechtsstreitigkeiten.
BVerfG zum Delisting: . In: Legal Tribune Online, 12.07.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6596 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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