Gesetzgebungsarbeit nach BVerfG-Urteil: Zei­ten­wende im Sicher­heits­recht?

Gastbeitrag von Prof. Dr. Mark A. Zöller

29.06.2022

Mit einem Grundsatzurteil hat das BVerfG ein "Mia san Mia" in Bayerns Sicherheitsrecht beendet und für Reformarbeit im Nachrichtendienst-, Straf- und Polizeirecht gesorgt. Was das für Bund und Länder bedeutet, erläutert Mark A. Zöller.

Der Umbruch hat seinen Anstoß in Bayern genommen. Bereits im Jahr 2016 hatte die Bayerische Staatsregierung im Alleingang mit der absoluten Stimmenmehrheit der CSU-Landtagsfraktion eine massive Ausweitung der Befugnisse für das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz durchgesetzt. Zur Begründung für die zahlreichen neuen Datenerhebungs- und Datenübermittlungsbefugnisse wurde auf das hohe Bedrohungs- und Gefährdungspotenzial durch den islamistischen Terrorismus verwiesen.  

Das alles geschah nicht nur gegen den massiven Widerstand der Oppositionsfraktionen, sondern auch gegen den Rat namhafter Experten. Nun muss der Bayerische Staatsminister des Innern Joachim Herrmann einmal mehr einen juristischen Scherbenhaufen aufkehren. Schließlich hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seinem Grundsatzurteil vom 26. April 2022 deutlich zum Ausdruck gebracht, dass es in grundrechtssensiblen Bereichen des Sicherheitsrechts mit einem selbstbewussten "Mia san mia" nicht getan ist. Mit seinem Urteil hat das BVerfG erhebliche Teile des Bayerischen Verfassungsschutzgesetzes für verfassungswidrig erklärt. 

Viel Reformarbeit im Nachrichtendienst-, Polizei- und Strafprozessrecht

Allerdings zeigt das zwar lange, aber für Karlsruher Verhältnisse außergewöhnlich verständlich und streckenweise fast schon lehrbuchartig geschriebenen Urteil, dass es sich in seinen Auswirkungen nicht auf den Freistaat Bayern beschränkt. Die zu prüfenden Regelungen des Bayerischen Verfassungsschutzgesetzes dienen vor allem als Stichwortgeber für allgemeine Vorgaben für eine rechtsstaatlichere Ausgestaltung des deutschen Nachrichtendienstrechts. Es handelt sich deshalb um ein Grundsatzurteil, mit dem der Erste Senat einerseits seine bisherige Rechtsprechungslinie bekräftigt und fortgeführt, andererseits aber auch die Gelegenheit genutzt hat, Aussagen zu präzisieren und Leitplanken für die zukünftige Gesetzgebung einzuschlagen. Insofern löst die Entscheidung bundesweit Reformbedarf aus. Dieser betrifft in erster Linie die Nachrichtendienstgesetze des Bundes und der Länder, hat aber zwangsläufig auch Folgewirkungen für thematisch "angrenzende" Rechtsgebiete wie das Strafprozessrecht oder das Polizei- und Ordnungsbehördenrecht.

Dieses Grundsatzurteil löst Reformbedarf im gesamten Recht der Inneren Sicherheit aus. Vor diesem Hintergrund haben in den zuständigen Innenministerien nun die Arbeiten an Gesetzentwürfen für neue Nachrichtendienstgesetze begonnen. Auch der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages hat sich in einem aktuellen Gutachten vor allem mit dem durch Karlsruhe veranlassten Reformbedarf für das Bundesverfassungsschutzgesetz befasst. Die Umsetzungsarbeiten sind in vollem Gange.

Unter den Gesichtspunkten der Bestimmtheit und der Verhältnismäßigkeit werden in dem Urteil für eine ganze Reihe von einzelnen Überwachungsmaßnahmen engere Anwendungsvoraussetzungen angemahnt. Darunter fallen etwa die Ortung von Mobilfunkgeräten, die Auskunft über Verkehrsdaten, der Einsatz von Verdeckten Mitarbeitern und Vertrauensleuten oder Observationen außerhalb von Wohngebäuden. So müssen die Gesetzgeber auf Bundes- und Landesebene beispielsweise für den Einsatz von Verdeckten Mitarbeitern zukünftig eine hinreichende Eingriffsschwellen klare Regelungen zum zulässigen Adressatenkreis und eine Kontrolle durch eine unabhängige Stelle explizit ins Gesetz schreiben.

Aus den strukturellen Unterschieden des Nachrichtendienstrechts zum Gefahrenabwehr- und Strafverfahrensrecht leitet das Bundesverfassungsgericht ganz konkrete Folgen für die Ausgestaltung des deutschen Sicherheitsrechts ab: Zurecht geht es davon aus, dass das Eingriffsgewicht der Überwachungsmaßnahme einer Verfassungsschutzbehörde im Vergleich zu Polizeibehörden grundsätzlich geringer ist, weil den Diensten operative Anschlussbefugnisse fehlen, die mit Zwang durchgesetzt werden könnten. Das bedeutet, dass Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz beispielsweise nicht zunächst verfassungsfeindliche Bestrebungen beobachten und dann, wenn sich bei der Durchführung des Beobachtungsauftrags Anhaltspunkte für die Begehung von Staatsschutzdelikten ergeben, selbst Freiheitsentziehungen oder Durchsuchungs- und Beschlagnahmemaßnahmen durchführen, um diesbezügliche Beweismittel für ein Strafverfahren zu sichern. Dieser Ausschluss polizeilicher Zwangsbefugnisse ist die Konsequenz der Tatsache, dass die Nachrichtendienste zur Erfüllung ihres Beobachtungsauftrags grundsätzlich nicht an Eingriffsschwellen wie die konkrete Gefahr oder den Anfangsverdacht gebunden sind. Sie können und sollen Aufklärung schon im Vorfeld von Gefährdungslagen betreiben, um die politischen Entscheidungsträger frühzeitig und angemessen zu informieren.

Der "Clou" im Urteil des BVerfG

Allerdings ist spätestens seit dem 26. April 2022 kein voraussetzungsloses Tätigwerden der Nachrichtendienste mehr möglich. Erforderlich ist zumindest ein "hinreichender verfassungsschutzspezifischer Aufklärungsbedarf" – ein Begriff, der aller Voraussicht nach schon in Kürze in allen deutschen Nachrichtendienstgesetzen stehen wird. Dabei gilt folgende Leitlinie: Je höher das Eingriffsgewicht der Überwachungsmaßnahme ist, je stärker sie also in die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger eingreift, umso dringender muss das Beobachtungsbedürfnis sein. Je nach Eingriffsintensität der Überwachungsmaßnahme hält das BVerfG sogar eine Vorabkontrolle durch eine unabhängige Stelle für erforderlich. Diese Formulierung legt nahe, dass jedenfalls die im Verfassungsschutzrecht verbreiteten Behördenleitervorbehalte, also "In-House-Entscheidungen", Anforderungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nicht genügen. Stattdessen kommt als unabhängige Kontrollinstanz neben einer Etablierung von Richtervorbehalten etwa eine nachrichtendienstspezifische unabhängige behördliche Kontrollinstitution nach dem Vorbild des Unabhängigen Kontrollrats (UKR) des Bundes in Betracht.

Der eigentliche "Clou" der Entscheidung besteht allerdings darin, dass selbst von diesen, vergleichsweise strengen Grundsätzen Ausnahmen für besonders eingriffsintensive Maßnahmen gelten sollen. An Befugnisse wie denjenigen zur akustischen oder optischen Wohnraumüberwachung oder zur Online-Durchsuchung werden danach auch im nachrichtendienstrechtlichen Bereich "dieselben Anforderungen wie an polizeiliche Maßnahmen" gestellt. Konkret fordert dasBVerfG, solche Maßnahmen an das Erfordernis der Abwehr einer "dringenden Gefahr" zu binden und für einen effektiven Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung zu sorgen. Eine solche Bindung an konkretisierte polizeiliche Eingriffsschwellen dürfte für alle besonders eingriffsintensiven Überwachungsmaßnahmen gelten, die typischerweise und in besonderem Maße mit Eingriffen in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) oder diesem als spezieller vorgehenden Grundrechtsgewährleistungen wie Art. 10 und 13 GG einhergehen. Dazu gehören beispielsweise Überwachungsmaßnahmen aus dem Bereich der Telekommunikationsüberwachung, der Einsatz (intelligenter) Videoüberwachung oder die Nutzung automatisierte Auswertesysteme.

Pikante Folgen für das Polizeirecht

Das aber bringt gerade für Bundesländer wie Bayern eine höchst pikante Folgewirkung für das Polizei- und Ordnungsrecht mit sich: Schließlich hat man im Freistaat bereits ab dem Jahr 2017 damit begonnen, typische gefahrenabwehrrechtliche Eingriffsbefugnisse zuzulassen. Es geht also einmal wieder um den Streitpunkt der "drohenden Gefahr", die als polizeiliche Eingriffsschwelle zumindest außerhalb Bayerns wegen Verstoßes gegen den Bestimmtheitsgrundsatz und das Verhältnismäßigkeitsprinzip weitgehend für verfassungswidrig gehalten wird. Wenn aber nun das BVerfG schon für das Nachrichtendienstrecht konkrete polizeiliche Eingriffsschwellen fordert, muss dies erst recht für das Strafprozess- und Gefahrenabwehrrecht gelten, wo operative Anschlussbefugnisse vorgesehen sind. Dass etwa das Bayerische Polizeiaufgabengesetz zur Gefahrenabwehr Maßnahmen wie die Telekommunikationsüberwachung (Art. 42 BayPAG), die Online-Durchsuchung (Art. 45 BayPAG) oder den Einsatz von Verdeckten Ermittlern und Vertrauenspersonen (Art. 37 BayPAG) auch bei lediglich drohenden Gefahren zulässt, ist mit dem jetzigen Votum des BVerfG schlicht nicht zu vereinbaren. Auch hier besteht somit gesetzlicher Anpassungsbedarf.

Im Übrigen hält das BVerfG gerade bei heimlichen Überwachungsmaßnahmen eine Absenkung der Eingriffsschwelle für die Nachrichtendienste nur dann für verhältnismäßig und damit verfassungsgemäß, wenn die Befugnisse für die Übermittlung der daraus gewonnenen Informationen an andere Stellen (z.B. Polizei und Staatsanwaltschaft) hinreichende Hürden vorsehen. Damit wird die in der Rechtswissenschaft bereits seit langem geforderte Gesamtreform der Datenübermittlungsbefugnisse im Dreieck von Polizei, Staatsanwaltschaft und Nachrichtendiensten hoffentlich den erforderlichen Auftrieb erhalten. Kommt der jeweils zuständige Gesetzgeber dieser Aufforderung nämlich nicht nach, so folgt die "Strafe" auf dem Fuße. Dann müssen die nachrichtendienstlichen Überwachungsbefugnisse denselben Eingriffsvoraussetzungen unterworfen werden wie die Überwachungsbefugnisse von Polizeibehörden. Und dann ist auch eine Beobachtung im Vorfeld von polizeirechtlicher (konkreter) Gefahr und strafprozessualem Anfangsverdacht schlicht vom Tisch.  

Prof. Dr. Mark A. Zöller ist Inhaber des Lehrstuhls für Deutsches, Europäisches und Internationales Strafrecht und Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und das Recht der Digitalisierung und Geschäftsführer des Instituts für Digitalisierung und das Recht der Inneren Sicherheit (IDRIS) an der Ludwig-Maximilians-Universität München.  

Eine ausführlichere Version dieses Beitrags erscheint in einer der kommenden Ausgaben der Zeitschrift Strafverteidiger, die wie LTO zu Wolters Kluwer Deutschland gehört.

Zitiervorschlag

Gesetzgebungsarbeit nach BVerfG-Urteil: . In: Legal Tribune Online, 29.06.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48879 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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