BVerfG verhandelt über zweiten Nachtragshaushalt 2021: Wie­viel Aus­nahme ver­trägt die Schul­den­b­remse?

von Dr. Christian Rath

22.06.2023

Die Ampel-Koalition verschob 60 Milliarden ungenutzte Corona-Gelder in den Klimafonds. Dagegen klagte die Union, am Mittwoch verhandelte das BVerfG. Christian Rath war vor Ort und erklärt die komplexen Fragestellungen.

Die Schuldenbremse steht seit 2009 im Grundgesetz. Nun spielt sie erstmals eine zentrale Rolle vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG). "Wir betreten Neuland", sagte Doris König, die Vorsitzende des Zweiten Senats. Rechtsprofessor Karsten Schneider, der die CDU/CSU vertrat, sprach von "Terra incocnita", einem unbekannten Land.

Doch das Verfahren ist nicht nur abstrakt von großem Interesse, weil eine wichtige Verfassungsbestimmung auszulegen ist. Auch der konkrete Rechtsstreit hat es in sich, denn es geht um sehr viel Geld: 60 Milliarden Euro.

Das BVerfG muss über ein spektakuläres Haushaltsmanöver der Ampel-Koalition entscheiden. Im Februar 2022 wurden 60 Milliarden Euro in den Klimafonds verschoben. Die Kreditermächtigungen waren ursprünglich für die Corona-Politik eingeplant, wurden dann aber doch nicht benötigt. Im zweiten Nachtragshaushalt für das Jahr 2021 beschloss der Bundestag im Februar 2022, diese Kreditermächtigungen in den Klima- und Transformationsfonds zu verlagern. Der Klimafonds wurde damit von 40 auf 100 Milliarden Euro aufgestockt. 

Diese 60 Milliarden Euro wurden 2022 in voller Höhe dem staatlichen Defizit 2021 zugeschlagen, obwohl die Gelder erst in den Folgejahren ausgegeben werden. 2021 war das noch nicht relevant, denn in diesem Jahr war die Schuldenbremse wegen der Corona-Pandemie ohnehin ausgesetzt. Da die Milliarden nun aber nicht in den Jahren verbucht werden, in denen sie abfließen, kann die Ampel seit 2023 die Schuldenbremse wieder einhalten - was Finanziminister Christian Lindner (FDP) sehr wichtig ist.

Die Union klagt in Karlsruhe 

Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion akzeptierte das Manöver jedoch nicht. 197 Abgeordnete beantragten beim BVerfG eine abstrakte Normenkontrolle gegen das zweite Nachtrags-Haushaltsgesetz. Parallel dazu stellten sie einen Eilantrag, den Karlsruhe jedoch im November 2022 nach einer Folgenabwägung ablehnte. Den Ausgang der Hauptsache bezeichneten die Richter:innen damals aber ausdrücklich als offen.

In Karlsruhe verteidigte Finanzstaatssekretär Werner Gatzer (SPD) das Manöver der Ampel. "Die Wirtschaft schwächelte wegen der Corona-Pandemie, deshalb mussten wir einen Konjunkturimpuls setzen". Die 60 Milliarden für den Klimafonds dienten laut Bundesregierung also auch der Bekämpfung der Corona-Krise. Dass mit dem Geld nicht irgendwelche Konjunkturprogramme, sondern klimapolitische Maßnahmen wie Programme zur Gebäudedämmung finanziert werden, lasse den Zusammenhang zur Corona-Krise nicht entfallen, so Staatssekretär Gatzer.

CDU/CSU-Fraktionsvize Mathias Middelberg hielt den Verweis auf die Corona-Krise während der Verhandlung am Mittwoch für ein "nachgeschobenes Scheinargument". Die Ampel-Koalition habe sich im Klimafonds eine "Vorratskasse" geschaffen, um die Schuldenbremse auszuhebeln. Rechtsprofessor Hanno Kube, der neben Schneider die Union in Karlsruhe vertrat, bezeichnete den Klimawandel als strukturelles Problem, dessen Bewältigung normal aus dem Haushalt finanziert werden müsse. 

Für die Bundesregierung geht es also um sehr viel. Falls Karlsruhe das Manöver nämlich beanstandet, müsste die Ampel die Klimapolitik - wegen der Schuldenbremse - ohne Kreditaufnahme finanzieren. Die erforderlichen Milliarden müssten dann an anderen Stellen im Haushalt eingespart werden oder die Ampel müsste die Steuern deutlich erhöhen. Beides würde zu neuen Zerreißproben in der Koalition führen, die der Union im kommenden Bundestagswahlkampf natürlich gelegen kämen. 

Auf die Ausnahme kommt es an

Maßstab des Rechtsstreits ist Art. 115 Grundgesetz (GG). Dort ist seit 2009 die sogenannte Schuldenbremse geregelt. Danach darf der Bund pro Jahr nur maximal 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung als neue Schulden aufnehmen. Bei schlechter Konjunktur kommt noch ein Zuschlag hinzu. Nur ausnahmsweise darf der Bund mehr Kredite aufnehmen. "Im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, können diese Kreditobergrenzen auf Grund eines Beschlusses der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages überschritten werden", heißt es in S. 6 des Art. 115 Abs. 2 GG. 

Doch wie ist diese Notfallklausel auszulegen? Das ist die zentrale Frage in diesem Verfahren. Unions-Vertreter Karsten Schneider plädierte für eine enge Auslegung. Schließlich spreche das GG in Art. 109 Abs. 2 selbst von einer "Ausnahmeregelung".

Dagegen warb Rechtsprofessor Alexander Thiele, der die Bundesregierung vertrat, für eine differenzierte Auslegung. "Die Vorschrift hat zwei Dimensionen", sagte er. Im Normalfall verhindere die Schuldenbremse die Aufnahme von Krediten und sichere eine solide Haushaltsführung. Im Krisenfall gehe es aber um effektive staatliche Krisenbewältigung, weshalb nun auch die Kreditaufnahme zugelassen werde. 

Sein Kollege, der emeritierte Rechtsprofessor Joachim Wieland, betonte, dass die Ausnahmeklausel des Art. 115 GG keine Begrenzung kenne. Dies sei durchaus Absicht des Verfassungsgesetzgebers gewesen, der die Handlungsfähigkeit des Staates in der Krise nicht einschränken wollte.

Das aber sahen die CDU/CSU-Vertreter anders. Zulässig seien in der Krise nur solche Extra-Ausgaben, die in einem "Veranlassungszusammenhang" mit der ursprüngliche Notsituation stehen. Dies sei ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal von Art. 115 Abs. 2 S. 6 GG. Zu diesem Ergebnis komme man entweder durch eine Auslegung der einleitenden Worte der Notfall-Klausel "Im Falle von" oder - falls das zu gewagt sein sollte - durch eine systematisch-teleologische Auslegung der Norm.

Außerdem müsse auch das Verhältnismäßigkeitsprinzip angewandt werden. Nur für Maßnahmen, die "erforderlich" sind, solle der Staat in der Krise Kredite aufnehmen dürfen, so Schneider. 

Wo ist die Grenze der Ausnahme? 

Verfassungsrichter Peter Müller ließ klare Sympathien für eine Begrenzung erkennen. "Wenn auch die wirtschaftlichen Folgen einer Krise von der Ausnahme mitumfasst sind, dann ist dies doch uferlos", sagte Müller.

Regierungsvertreter Thiele hielt dem eine von ihm entwickelte Krisentypologie entgegen. Bei zeitlich eng begrenzten Krisen, wie etwa nach der Überschwemmung im Ahrtal, gehe es nur um die Beseitigung der unmittelbaren Schäden. Bei einer lang anhaltenden Krise, wie etwa nach der Wiedervereinigung oder nach der Corona-"Jahrhundertkrise", müssten dagegen auch die gesamtgesellschaftlichen Folgen berücksichtigt werden.

Doch auch dann müssten die Ausgaben für Konjunkturprogramme im Rahmen bleiben. "Die Pandemie hat in Deutschland Investitionsausfälle in Höhe von 53 Milliarden Euro verursacht", rechnete Thiele vor. "Deshalb sind die zusätzlichen 60 Milliarden Euro für den Klimafonds eine geeignete Gegenmaßnahme. Dagegen wären 200 Milliarden Euro nicht zu rechtfertigen."

Wer entscheidet über die Grenzen? 

Einigen Verfassungsrichter:innen waren die Konzepte der Professoren zu vage. "Wie grenzt man denn ab, welche Ausgaben wirklich der Bekämpfung der Notlage dienen und welche nur anläßlich der Notlage beschlossen werden?", fragte Richterin Rhona Fetzer. Und Richterin Christine Langenfeld machte sich Sorgen, dass das BVerfG bald darüber entscheiden muss, ob statt einer Kreditaufnahme nicht auch die Kürzung bestimmter Haushaltstitel oder die Erhöhung bestimmter Steuern in Frage komme.

Thiele teilte die Bedenken wegen der Gewaltenteilung. Letztlich müsse der demokratisch gewählte Bundestag entscheiden, was zur Krisenbewältigung erforderlich ist - "und nicht - bei allem Respekt - das Bundesverfassungsgericht." 

Schneider nahm die Gewaltenteilungsproblematik ebenfalls ernst. Er wollte deshalb auch auf den Bundestag abstellen, ohne auf Karlsruher Kontrolle zu verzichten: "Der Bundestag bestimmt, aus welchen Gründen er die Schuldenbremse aussetzt - und das Bundesverfassungsgericht kann dann kontrollieren, ob die tatsächlich finanzierten Ausgaben wirklich der Bekämpfung dieser vom Parlament beschriebenen Notlage dienen."

"Parken von Kreditermächtigungen" 

Damit das Manöver der Ampel funktioniert, musste sie im Februar 2022 zugleich die Buchungsregeln für die Schuldenbremse ändern, was die CDU/CSU ebenfalls angriff.

Während bisher die Gelder in dem Jahr in Rechnung gestellt wurden, in dem sie tatsächlich ausgegeben wurden, genügt es jetzt, dass die Gelder einem Sondervermögen wie dem Klimafonds zufließen. Wann der Klimafonds die Ermächtigungen dann realisiert, spielt keine Rolle mehr.

Die Union nannte dies ein "Parken von Kreditermächtigungen", mit dem die Schuldenbremse gezielt ausgehebelt werde. "Wenn wir das zulassen, haben wir keine effiziente Schuldenbremse mehr", sagte der Abgeordnete Middelhoff, "dann sind alle Dämme gebrochen."

Doch auch diesen Vorwurf wollte Staatsekretär Gatzer nicht gelten lassen. "Es ging doch darum, ein glaubwürdiges Signal an private Investoren zu senden", sagte Gatzer. Die Bundesregierung habe zeigen müssen, dass sie in den kommenden Jahren diese Kredite aufnehmen und ausgeben wird. Durch die massiven Kreditermächtigungen sollten private Investitionen angeregt werden.

Das BVerfG verhandelte noch bis in den Abend hinein. Sein Urteil wird es in einigen Monaten verkünden.

* Fassung vom 29.06.23, 11:11 Uhr: Der Artikel enthielt in einer Passage fehlerhafte Jahresangabe. Dies wurde korrigiert.

Zitiervorschlag

BVerfG verhandelt über zweiten Nachtragshaushalt 2021: . In: Legal Tribune Online, 22.06.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52054 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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