Deutschlands höchste Richter lassen sich bei ihren Entscheidungen manchmal auch von ihrer Parteinähe leiten. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Uni Mannheim. Eine parteiliche Prägung lasse sich belegen, werde aber häufig überschätzt.
Ein Forscherteam der Universität Mannheim, mehrheitlich bestehend aus Politikwissenschaftlern, hatte im Zeitraum zwischen 2005 und 2016 Entscheidungen des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) unter die Lupe genommen. Sie wollten wissen, ob die beteiligten Richter im Sinne der Parteien entschieden, von denen sie nominiert wurden.
Untersucht wurden diejenigen Entscheidungen des Senats, bei denen sich mindestens ein Richter namentlich von der Entscheidung der anderen abgrenzte, indem er ein sogenanntes Sondervotum abgab. Auch einige wenige sogenannte Vier-zu-vier-Entscheidungen, bei denen die acht Mitglieder des Senats keine mehrheitliche Entscheidung treffen konnten, wurden in die Untersuchung einbezogen. Im untersuchten Zeitraum von zehneinhalb Jahren waren es 20 Entscheidungen, bei denen sich Richter des Zweiten Senats namentlich positionierten.
Das Ergebnis der Auswertung: Parteinähe spielt bei den Entscheidungen der Richter – trotz ihrer formalen Unabhängigkeit - sehr wohl eine Rolle. Das Entscheidungsverhalten der Richter des Zweiten Senats sei im Untersuchungszeitraum "nicht völlig unabhängig von Parteilinien" gewesen, resümieren die Forscher.
Allerdings liegt eine gewisse Parteinähe der Richter auch in der Natur des Wahlverfahrens, das sie nach Karlsruhe befördert: Richter des BVerfG werden je zur Hälfte vom Bundestag und Bundesrat gewählt. Erforderlich ist jeweils eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Das führt dazu, dass sich vor allem Union und SPD die Vorschlagsrechte untereinander aufteilen. Die kleineren Parteien konnten bisher immer nur einen Verfassungsrichter vorschlagen, wenn ihnen Union und SPD ein Benennungsrecht abtraten. Zuletzt hatte es Unstimmigkeiten wegen einer Nachbesetzung für den Ersten Senat gegeben; ursprünglich wären die Grünen am Zug gewesen, Unionsministerpräsidenten beharrten allerdings auf einen Kandidaten aus ihrem Lager, da sie einen Linksdrall im Senat befürchteten.
Bestimmtes Maß an Parteinähe unbedenklich
Dass sich die Richter des Zweiten Senats bei ihren Entscheidungen offenbar nicht gänzlich von der Linie der Partei, die sie letztlich in das Amt nach Karlsruhe gehievt hat, freimachen können, finden die Wissenschaftler allerdings nicht bedenklich: "Ein gewisses Maß an parteilicher Prägung ist nicht überraschend und ergibt auch Sinn. Schließlich geht es bei verfassungsrechtlichen Fragen nicht immer nur um richtig oder falsch, sondern auch um eine politische oder weltanschauliche Bewertung der zugrunde liegenden Rahmenbedingungen in einer sich ändernden Gesellschaft", so Professor Thomas Gschwend, einer der Autoren der Studie. Gschwend weiter: "Auch Gewissensfragen können eine Rolle spielen – und da kann man es als durchaus wünschenswert betrachten, dass im Verfassungsgericht unterschiedliche Strömungen vertreten sind, da seine Entscheidungen von großer Tragweite sind."
Trotz der konstatierten Parteinähe: Die Forscher der Uni Mannheim sind bei der Präsentation ihrer Ergebnisse sehr darum bemüht, Sorgen um die richterliche Unabhängigkeit an Deutschlands höchstem Gericht gar nicht erst aufkommen zu lassen. "Unseren Befunden nach entscheiden die Richter über Parteigrenzen hinweg relativ ähnlich. Sie kooperieren miteinander und das teilweise sogar stärker mit Kollegen, die von einer anderen Partei nominiert wurden als sie selbst", sagt Politologe Gschwend. Das sei ein Beleg dafür, "dass Bundesverfassungsrichter sachlich und unabhängig entscheiden und sich nicht allein von einer unter Umständen durchaus vorhandenen Parteinähe lenken lassen."
Dass die Forscher für ihre Studie den Zeitraum vom 1. Oktober 2005 bis zum 20. Juli 2016 gewählt haben, ist übrigens kein Zufall: Dieses Intervall deckt die Amtsperiode des ehemaligen Richters des BVerfG Herbert Landau ab, der nach Erreichen der Altersgrenze seine Entlassungsurkunde am 20. Juli 2016 ausgehändigt bekam. Landau war seinerzeit vom Bundesrat auf Vorschlagsrecht der CDU/CSU zum Richter des BVerfG gewählt worden. Ihm war in der Öffentlichkeit eine starke parteipolitische Prägung nachgesagt worden. So hatte die Süddeutsche Zeitung Landaus 2008 mit folgenden Worten beschrieben: "Aus seiner persönlichen Verbundenheit mit Roland Koch und dessen Vater machte Landau kein Geheimnis, zumal er 1999 als BGH-Strafrichter an das Wiesbadener Justizministerium wechselte und Staatssekretär wurde. Nach seiner Wahl zum Verfassungsrichter 2005 wunderte sich niemand, dass das CDU-Mitglied fast immer auf der Seite der ebenfalls konservativ-liberalen Richter Di Fabio und Mellinghoff zu finden war."
Keine Chance für Richter mit extremen Positionen
Die Mannheimer Forscher relativierten im Rahmen ihrer Untersuchung diese Einschätzung jetzt: "Unsere Ergebnisse belegen, dass Herbert Landaus Entscheidungsverhalten nicht in dem Maße pauschalisiert werden kann, wie es die mediale Berichterstattung zu seiner Amtszeit teilweise getan hat", betont Thomas Gschwend. "Es gibt Faktoren, die ihn näher an unionsnominierte Richterkollegen rücken, und dennoch tritt das Gericht nach außen einheitlich und geschlossen auf, unabhängig von parteipolitischer Nähe", heißt es in der Studie.
Weiter stellte das Forscherteam klar, dass sie auch am gegenwärtigen Wahlverfahren zum BVerfG im Prinzip nichts auszusetzen haben: Mit der nötigen Zwei-Drittel Mehrheit werde die Legitimität und Autorität des Gerichts gestärkt. Die Regelung gewährleiste, dass die jeweilige Parlamentsmehrheit - solange sie nicht über die qualifizierte Mehrheit verfügt - ausschließlich ihre eigenen Leute oder Leute ihrer Richtung in das BVerfG bringt. Zugleich sorge sie dafür, dass Kandidaten mit extremen Überzeugungen bei der Wahl praktisch keine Chance haben.
Bei Studienautor Gschwend stößt schließlich auch der Umstand, dass regelmäßig die Politik über die Besetzung in Deutschlands höchstem Gericht entscheiden, auf uneingeschränkte Zustimmung: "Das ist besser als die Wahl irgendwelchen Komitees zu überlassen, die selbst nicht direkt hinreichend legitimiert sind. Da gibt es genügend Beispiele in anderen Ländern, dass das keine gute Idee ist", so der Hochschullehrer zu LTO.
Dass die Studie am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES) und nicht an einem juristischen Lehrstuhl erarbeitet wurde, ist im Übrigen nur auf den ersten Blick etwas überraschend. Im Vorwort findet sich sogleich die Erklärung dafür: "Über den Einfluss der Parteinähe der einzelnen Bundesverfassungsrichter auf die Gerichtsentscheidungen wird auch in der Rechtswissenschaft diskutiert – oder vielmehr spekuliert. Denn die Rechtswissenschaft verfügt nicht über eigene Methoden, um diesen Einfluss systematisch zu erfassen."
Hasso Suliak, Studie zur Parteinähe von Bundesverfassungsrichtern: . In: Legal Tribune Online, 13.07.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/29739 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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