Zwei-Drittel-Mehrheitswahl, Amtsdauer und keine Wiederwahl. In Regierung und unter Abgeordneten zirkulieren Vorschläge, das BVerfG widerstandsfähiger zu machen. Ein LTO vorliegendes Diskussionspapier schildert ein akutes Bedrohungsszenario.
Als Anfang November im Plenum des Bundestags der Tagesordnungspunkt 19 aufgerufen wurde, konnte man sich eigentlich auf ein technisches Thema einstellen. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) sollte an den elektronischen Rechtsverkehr angeschlossen werden. Doch in der Diskussion kam es ganz anders, es ging plötzlich um eine Verfassungsänderung. Eine, die seit Jahren Rechtspolitiker, Journalisten, Rechtswissenschaftlerinnen beschäftigt: Wie kann man das BVerfG davor schützen, von der jeweiligen Regierung per einfachem Gesetz geschwächt oder lahmgelegt zu werden?
In der Plenumsdebatte forderte Volker Ullrich, Unions-Abgeordneter und Mitglied des Rechtsausschusses, in eine Frage verpackt: "[…] oder sagen wir als demokratische Kräfte: 'Dieses Gericht mit dem hohen Vertrauen und seiner enormen Bedeutung muss stärker geschützt werden, indem wir zentrale Elemente in unser Grundgesetz schreiben?'"
Wohl zum ersten Mal tauchte die Forderung nach einer solchen Verfassungsänderung so ausdrücklich im Bundestag auf. Ullrich weiter: "Das Gericht an sich, die Einrichtung, und die Verfassungsbeschwerde sind durch das Grundgesetz (GG) geschützt, aber nicht die Anzahl der Senate, nicht die Länge der Amtsdauer der Richterinnen und Richter und auch nicht die Geschäftsverteilung." Der Vorschlag, das Grundgesetz zu ändern, um die Konstitution des BVerfG zu festigen, ist keine weitere Alternative in einer bisweilen aufgeregten Diskussion um Parteiverbot und Grundrechtsverwirkung. Vielmehr halten Verfassungsrechtler dies schon lange für überfällig, um das Gericht gegen rechtsstaatswidrige Versuche des Machterhalts einer Regierung abzusichern, wie sie etwa in Polen, Ungarn, der Türkei oder Israel zu beobachten sind.
Am Wochenende sprachen sich die Rechtspolitiker Johannes Fechner (SPD) und Stephan Thomae (FDP) für einen solchen Schritt aus. Seit einigen Wochen zirkulieren konkrete Pläne in der Bundesregierung und unter Abgeordneten. Ein Diskussionspapier dazu liegt LTO vor.
Ein Diskussionspapier mit Optionen für eine Verfassungsänderung
Es sieht verschiedene Optionen vor. Sie reichen von einem im Grundgesetz verankerten Mitspracherecht des BVerfG bei wesentlichen Umbauplänen ("Einvernehmenslösung") bis hin zu einer detaillierten Übernahme mehrerer Paragraphen aus dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) in die Verfassung: Die Gliederung in zwei Senate, die Zahl der Richterinnen und Richter, die Amtszeit von zwölf Jahren, der Ausschluss der Wiederwahl, die Bindungswirkung der Entscheidungen.
Gemeinsam ist den Vorschlägen die Sorge, dass Verfassungsgerichte zu den ersten Angriffszielen gehören, überall dort wo, antiliberale Regierungsparteien versuchen, aus Demokratien autoritäre Systeme zu machen. In einem Verfassungsstaat stellt das Ausschalten der verfassungsgerichtlichen Kontrolle einen ersten Schritt dar, die eigene Macht zu entgrenzen. Wie das abläuft, hat sich in Polen, Ungarn, der Türkei und zuletzt Israel beobachten lassen. Ungarn und Israel setzten an den Kompetenzen ihrer Verfassungsgerichte an, Polen hat durch Verfahrensänderungen sein höchstes Gericht lahmgelegt.
In Deutschland liegen wesentliche Strukturentscheidungen über das BVerfG in der Hand des Gesetzgebers, mit einer einfachen Mehrheit im Parlament können sie geändert werden. Selbst das Zwei-Drittel-Erfordernis bei der Wahl neuer Karlsruher Verfassungsrichterinnen und -richter steht so nur im BVerfGG, ein Gesetz, das die Arbeit des Gerichts regelt. Weitere – und nur scheinbar nebensächliche – Verfahrens- und Organisationfragen können ebenfalls per einfacher Mehrheit geändert werden: Dass es beim BVerfG zwei Senaten mit jeweils acht Richterinnen und Richtern gibt. Und nicht etwa zwölf Richterinnen und Richter in einem Senat, am besten mit regierungstreuen Mitgliedern aufgefüllt, die abrupt ein neues Mehrheitsverhältnis erzeugen.
Wie aus solchen Szenarien Realität wird, zeigt der Blick nach Ungarn, dort hat Viktor Orbans Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament beim Verfassungsgericht die Richterzahl von zehn auf fünfzehn erhöht und die Amtszeit verlängert auf zwölf Jahre – natürlich nicht ohne die neuen Stellen mit regierungstreuen Richtern zu besetzen. Zentrale Materien wie der Haushalt wurden zudem der Kontrolle durch das Gericht entzogen. In Polen wurde das Verfassungsgericht geschwächt, indem es Fälle nur noch chronologisch abarbeiten und nicht mehr nach Bedeutung priorisieren kann. Hinzu kommt, dass sich nach dem Regierungswechsel nun in Polen zeigt, wie schwer es fällt, verfassungskonform solche Justizreformen wieder rückgängig zu machen. Denn darauf kommt es solchen Kräften an: den politischen Wettbewerb zwischen Regierung und Opposition dauerhaft zu stören. Andere Drohszenarien wären: Eine Wiederwahl von Richterinnen und Richter einzuführen, die könnten sich dann in Versuchung sehen, so zu entscheiden, dass sie auch politisch wiedergewählt werden. Auch wäre es denkbar, einen dritten Senat beim BVerfG einzurichten, ihn mit neuen Richterinnen und Richtern zu besetzen und bedeutsame Entscheidungen an den anderen Senaten vorbei in den neuen zu schleusen.
Dass keine Kraft im deutschen Bundestag diese Macht für gefährliche Umgestaltungen einseitig ausgenutzt hat, dafür sorgt bislang auch ein gemeinsames Verständnis des BVerfG, die von Weitsicht, Kompromiss und Verständigung geprägt ist. Verfassungsrechtlich abgesichert sind die Strukturelemente des Gerichts, die Ausgewogenheit und Unabhängigkeit des Gerichts garantieren sollen, aber nicht. Dafür genügt ein Blick in den knappen Art. 94 GG.
Das Diskussionspapier, das in Berlin die Abgeordneten beschäftigt, schlägt deshalb vor zumindest die Richterwahl, die Amtsdauer, den Ausschluss der Wiederwahl und die Bindungswirkung der Entscheidungen des BVerfG ins Grundgesetz aufzunehmen. Der Art. 94 GG soll dazu ergänzt werden, das könnte etwa so klingen: "Gesetzliche Bestimmungen zum Aufbau des Gerichts, zu Wahl und Status der Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts sowie wesentliche Verfahrensregeln bedürfen der Zustimmung von Zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestags."
Droht der Richterwahl schon bald eine Blockade?
Damit in Deutschland nach geltendem Recht die Regeln zum BVerfG zu seinem Schaden geändert werden, dafür muss eine Partei oder Koalition mit einer solchen Agenda erst einmal eine Mehrheit im Bundestag erreichen. Ein Szenario, das auf Bundesebene auch für die AfD weit entfernt scheint. Kritisch für die Arbeit des BVerfG könnte es aber auch schon vorher werden. Erreicht nämlich eine Partei so viele Stimmen, dass sie mit einer Sperrminorität die Zwei-Drittel-Mehrheit unerreichbar macht, droht eine langfristige Blockade bei der Besetzung neuer Richterstellen.
Vorgeschlagen wird für solche Blockadefälle die Einschaltung eines Wahlausschusses, der mit Richterinnen und Richtern aus den obersten Bundesgerichten besetzt wird. Ein ähnliches Gremium, besetzt mit den Präsidenten der Bundesgerichte, existiert bereits. Denkbar wäre auch, zur Auflösung der Blockade andere Verfassungsorgane zu beteiligen und etwa Bundesrat oder Bundespräsident mitentscheiden zu lassen. Ein Weg, der bereits für andere Störungen beim Zusammenwirken der Verfassungsorgane angelegt ist.
Unabhängig davon, wie weitreichend das BVerfG abgesichert werden soll, geht es um nicht weniger als eine Verfassungsänderung. Und die braucht selbst eine Zwei-Drittel-Mehrheit und wird damit nur mit den Stimmen der Union gelingen. Ein Projekt, das nicht im Rechtsausschuss des Bundestags entschieden wird, sondern an den Parteispitzen.
Grüne-Rechtspolitiker Steffen: "Kein Ampelprojekt, Anliegen aller Demokraten"
"Eine Reform des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes erfordert nicht nur aufgrund der notwendigen Grundgesetzänderung größtmöglichen Konsens", sagte Grünen-Rechtspolitiker Till Steffen am Montag zu LTO: "Das ist kein Partei- oder Ampelprojekt. Das Bundesverfassungsgericht zu schützen, ist ein Anliegen aller Demokraten."
Mit Gabriele Britz und Michael Eichberger sprachen sich in der FAZ zwei ehemalige Richter des BVerfG für eine Absicherung durch den parlamentarischen Gesetzgeber aus. Ihre Ko-Autorenschaft war sicherlich kein Zufall, sondern ein Signal: Britz war auf Vorschlag der SPD ans BVerfG gekommen, Eichberger wurde seinerzeit von CDU/CSU vorgeschlagen. Sie stellten in ihrem gemeinsamen Beitrag Szenarien und Optionen vor, die sich so auch in dem zirkulierenden Diskussionspapier wiederfinden.
Auch die Justizministerinnen und -minister der Länder hatten sich im Frühjahr 2023 darauf verständigt, Änderungen im Bundes- und Landesrecht zu prüfen, "um eine mögliche Schwächung des Rechtsstaats zu verhindern". In einem aktuellen Editorial der NJW spricht sich auch Staatsrechtler Klaus Ferdinand Gärditz für eine Verfassungsänderung aus. Der ehemalige Präsident des BVerfG Andreas Voßkuhle spricht sich einem gesonderten Beitrag für Die Zeit dafür aus, die Zwei-Drittel-Wahl und das Ende der Amtszeit nach zwölf Jahren ins Grundgesetz aufzunehmen. Andere Regelungen zu Verfahren und Organisation in die Verfassung zu schreiben, sieht er skeptisch. Der Gesetzgeber gebe damit Regelungen aus der Hand. Das könnte auch eine Erwägung derjenigen sein, die mehr Macht gegenüber Karlsruhe beim Parlament reserviert sehen wollen. Mit dem Risiko, dass die geltende Gesetzeslage in der Zukunft für das BVerfG einmal verhängnisvoll werden könnte.
Pläne zur GG-Änderung erreichen Bundestag: . In: Legal Tribune Online, 29.01.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53748 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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