Das PSPP-Urteil des BVerfG ist eine Provokation für die EU. Die Reaktion kann die Fragen nicht einfach vom Tisch fegen, meint Anna Katharina Mangold. Doch ein Vertragsverletzungsverfahren würde die anderen Bundesorgane vor dem BVerfG schützen.
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) hat am vergangenen Dienstag eine alte Drohung wahrgemacht und erstmals einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) die Gefolgschaft versagt. Bemerkenswert ist der Ton, mit dem das Karlsruher Gericht die Entscheidung des EuGH charakterisieren zu müssen glaubt, um dogmatisch ein ultra vires-Urteil feststellen zu können ("schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar", "methodisch nicht mehr vertretbar", "objektiv willkürlich"). Vermittelt über Bundesregierung und Bundestag möchte der Senat die Europäische Zentralbank (EZB) dazu bringen, ihre geldpolitischen Maßnahmen auf wirtschaftspolitische Auswirkungen hin zu untersuchen und das Abwägungsergebnis öffentlich mitzuteilen. Das BVerfG will auf dieser Basis prüfen, ob die EZB möglicherweise ebenfalls ultra vires gehandelt hat, indem sie in den Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten übergegriffen und unerlaubt Wirtschaftspolitik betrieben hat.
Das PSPP-Urteil als Provokation für die EU
Das Urteil ist die reinste Provokation gegenüber der EU, weil es zwei Organe der EU, EuGH und EZB, frontal angreift. Die Karlsruher Entscheidung untergräbt die Autorität des EuGH als Letztinterpret des Unionsrechts. Niemanden konnte deswegen überraschen, dass das deutsche Urteil in Polen und Ungarn als Bestätigung der eigenen EU-Kritik triumphierend aufgegriffen wurde, sind doch beide Mitgliedstaaten in eine Vielzahl von Verfahren vor dem EuGH verwickelt, die Zweifel an ihrer Rechtsstaatlichkeit betreffen.
Dringlich stellt sich nun die Frage, was die EU mit dem anstellen soll, was ihr der Zweite Senat da hingeworfen hat. Der EuGH erinnerte in einer singulären Pressemitteilung vor wenigen Tagen an die Bindungswirkung seiner Vorabentscheidungen für die vorlegenden Gerichte und betont damit recht vernehmlich seinen Anspruch auf das letzte Wort. Gleich am Sonntag hat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen denn prompt angekündigt, Maßnahmen gegen den Mitgliedstaat Deutschland bis hin zur Eröffnung eines Vertragsverletzungsverfahrens zu prüfen, und ebenfalls das Letztentscheidungsrecht des EuGH betont: "Das letzte Wort zu EU-Recht wird immer in Luxemburg gesprochen. Nirgendwo sonst." Markige Worte.
Vertragsverletzungsverfahren wegen Aufmüpfigkeit eines Gerichts
Rechtlich möglich ist ein Vertragsverletzungsverfahren. Es wäre nicht einmal historisch präzedenzlos. Schon häufiger ist die EU gegen einen Mitgliedstaat wegen eines aufmüpfigen Gerichts vorgegangen. In ständiger Rechtsprechung geht der EuGH davon aus, dass er eine Vertragsverletzung auch dann feststellen kann, wenn ein verfassungsmäßig unabhängiges Organ gehandelt hat (zum Parlament: EuGH, 5.5.1970, Rs. C-77/69, KOM/Belgien, Rn. 15; zu Gerichten: EuGH, 9.12.2003, Rs. C-129/00, KOM/Italien, Rn. 41). Ein Mitgliedstaat haftet gegenüber der EU demzufolge grundsätzlich auch für Entscheidungen seiner unabhängigen Gerichte.
Alter Zankapfel: Vorrang des Unionrechts aus zwei Perspektiven
Inhaltlich geht es um den sogenannten Vorrang des Europarechts. In der berühmten Entscheidung Costa/ENEL (15.4.1964, Rs. 6/64) entwickelte der EuGH den Vorrang des Unionsrechts als Lösung für Normkonflikte in der föderalen Ordnung der EU. Aus Sicht der Union muss anderslautendes mitgliedstaatliches Recht Unionsrecht in der Anwendung weichen, um so die einheitliche Geltung des Unionsrechts in der EU sicherzustellen.
Aus mitgliedstaatlicher Sicht ist dieser Anwendungsvorrang allerdings niemals unbestritten gewesen (so auch BVR Huber in einem Interview gestern). Just das BVerfG hat bereits in den 1970er Jahren in der Solange-Rechtsprechung einen Prüfungsvorbehalt bei möglichen Grundrechtsverletzungen etabliert – am Maßstab des deutschen Grundgesetzes. Seit dem Maastricht-Urteil von 1993 ist eine auf das Demokratieprinzip gestützte Rechtsprechungslinie zu Kompetenzverstößen (ultra vires-Handeln) hinzugekommen, die nun im PSPP-Urteil kulminiert ist. Das BVerfG war mit den Antworten des EuGH in Gauweiler und Weiss auf seine (ersten!) Vorlagefragen unzufrieden. Es widersetzte sich dem EuGH.
Beide Perspektiven, die unionale und die mitgliedstaatliche, sind jeweils für sich genommen verständlich. Der resultierende Konflikt ist seit jeher in der föderalen Ordnung der EU angelegt. Die Entscheidung des Zweiten Senats kommt daher auch nicht gänzlich unerwartet, wie Ana Bobić und Mark Dawson konstatieren. Ihre Radikalität aber überrascht.
Nicht die erste Widerständigkeit mitgliedstaatlicher Gerichte
Das PSPP-Urteil fügt sich in eine Reihe von EuGH-kritischen mitgliedstaatlichen Gerichtsurteilen. Bis heute berühmt ist die Widerständigkeit des Fünften Senats des Bundesfinanzhofes in den 1980er Jahren (BFH, 25.4.1985, Az. 1985 V R 123/84, BFHE 143, 383). Der BFH widersetzte sich mit Nachdruck der Rechtsprechung des EuGH zur direkten Anwendbarkeit von Richtlinien, die ja in der Tat nicht gerade intuitiv überzeugend war (und bis heute schwierig bleibt). Ähnlich argumentierte der französische Conseil d’Etat bereits in einem Ausweisungsfall in den 1970ern (22.12.1978, Rec. Lebon 1978, 524, Cohn-Bendit).
Das tschechische Verfassungsgericht wandte sich 2012 gegen eine sozialrechtliche EuGH-Entscheidung zu Pensionen nach der Staatsteilung der ehemaligen Tschechoslowakei (31.1.2012, Pl. ÚS 5/12, Landtová; zu den Hintergründen hier). Der dänische Supreme Court hat Ende 2016 in einem Fall zu Altersdiskriminierung dem EuGH ebenfalls die Gefolgschaft versagt (6.12.2016, Rs.15/2014, Ajos; dazu hier). Neu an dem PSPP-Urteil ist also zunächst, dass es erstmals das BVerfG ist, das sich offen gegen den EuGH stellt. Gleichzeitig sind in der mittlerweile 70-jährigen Integrationsgeschichte die Ernstfälle noch immer an einer Hand abzuzählen.
Wie umgehen mit aufmüpfigen Gerichten?
Eine Möglichkeit, mit einer solchen Entscheidung umzugehen, ist, dem mitgliedstaatlichen Gericht Europafeindlichkeit zu unterstellen. Aktuell sind die Reaktionen auf die PSPP-Entscheidung teilweise heftig. Doch so einfach liegt die Sache nicht.
Erstens gibt es in der föderalen Ordnung der EU kein Instanzenzug wie in nationalen Rechtsordnungen. Vielmehr ist in die Rechtsordnung selbst ein "konstitutioneller Pluralismus" eingebaut, wie er vielen föderalen Ordnungen eigen ist. Der Staatsrechtler Carl Schmitt hat dies in seiner "Verfassungslehre" 1928 treffend als "Schwebezustand" zwischen gliedstaatlicher und föderaler Ebene bezeichnet.
Zweitens haben die genannten Gerichte sich nicht etwa aus prinzipiellen Gründen gegen den EuGH gewandt, sondern weil sie in den jeweiligen Rechtsfragen die Auffassung des EuGH nicht teilten. Der Widerspruch war für diese Gerichte so eklatant, dass sie den Konflikt mit dem EuGH in Kauf nahmen.
Zugegeben, die heftige Rhetorik des PSPP-Urteils ist äußerst unglücklich, weil geeignet, den sachlichen Austausch eher zu beenden als aufzunehmen oder fortzusetzen. Positives Gegenbeispiel ist insoweit die auf Kooperation angelegte Haltung des Ersten Senats in dessen beiden Entscheidungen zum "Recht auf Vergessenwerden" I und II. Doch auch der Zweite Senat dürfte von einem Sachanliegen motiviert gewesen sein, nämlich der Sorge um die Kompetenzverteilung in der EU und ein unkontrolliertes Handeln der EZB.
Was bringt überhaupt ein Vertragsverletzungsverfahren?
Wäre es politisch klug, einem mitgliedstaatlichen Verfassungsgericht eine andere Rechtsauffassung aufzuzwingen? Die EU ist im Kern eine Rechtsgemeinschaft, wie bereits der erste Kommissionspräsident Walter Hallstein formulierte. Sie ist eine Rechtsgemeinschaft, die stets in erster Linie auf Überzeugung gesetzt hat, nicht auf Zwang. Die monetären Sanktionen im Vertragsverletzungsverfahren wurden erst spät in die Verträge aufgenommen. Nicht von Zwang und Sanktion lebt die EU, sondern von Überzeugung durch sachliche Argumente.
Trotz aller martialischen Rhetorik sollten wir uns die Richterinnen und Richter des Zweiten Senats als Menschen vorstellen, die einen Dialog in Gang bringen wollen (ironisch BVR Huber in der FAZ: "Dialektik"). Das Sondervotum zum Europäischen Patentübereinkommen dreier in jüngerer Zeit berufener Richterinnen und Richter zeigt, dass auch innerhalb des Senats gerungen wird. Nur sachlich gute Gründe werden helfen, eine abgewogene und künftig mit dem EuGH kooperationswillige Mehrheit im Senat zustande zu bringen, auch mit den jetzt neu zu wählenden Personen.
Blicken wir auf die Argumente des Zweiten Senats, so ist zu konstatieren, dass eine bessere Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen der EZB, wie sie das BVerfG fordert, sicher hilfreich ist für die demokratische Deliberation über die machtvolle Institution EZB. Eine solche Begründung führte zu einer stärker politisch akzentuierten Geldpolitik, was wiederum das Legitimationsproblem der EZB umso deutlicher machte. Diese Frage verschwindet nicht einfach im Falle einer Verurteilung Deutschlands.
Desaströse Folgen
Verurteilte der EuGH Deutschland, so hätte "dieser Staat die Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofes ergeben". Aus der Sicht des Unionsrechts wäre egal, wie Deutschland ein solches Urteil umsetzt. Problematisch ist an der Karlsruher Entscheidung insbesondere ihre Bindungswirkung für Bundesregierung, Bundestag und Bundesbank. Bliebe das Urteil bestehen und lieferte die EZB keine Begründung, wäre zu guter Letzt womöglich der Bundesbank verfassungsrechtlich untersagt, am PSPP-Programm weiter mitzuwirken.
Würde in einem Vertragsverletzungsverfahren die Bundesrepublik verurteilt, könnten sich die anderen Organe pikanterweise ihrerseits gegenüber dem BVerfG auf den Vorrang des Unionsrechts berufen und das Urteil unbeachtet lassen.
Das Karlsruher Aufbegehren gegen den EuGH ist wie gesehen zwar nicht präzedenzlos. Es sendet jedoch gerade in der gegenwärtigen Situation ein sehr ungünstiges Signal an andere Mitgliedstaaten. Eine Untätigkeit der Kommission könnte sich politisch nachteilig auswirken in den laufenden Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Ungarn und Polen.
Bei allem guten Willen, dem Zweiten Senat sachliche Gründe für sein Urteil zuzugestehen, offenbart die Analyse der unionalen Reaktionsmöglichkeiten überdeutlich, welch desaströse Folgen dieses Urteil zeitigt – mit oder ohne Vertragsverletzungsverfahren.
EU-Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland?: . In: Legal Tribune Online, 13.05.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41609 (abgerufen am: 01.11.2024 )
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