Im Ringen um die Corona-bedingten Grundrechtseinschränkungen spielt das Bundesverfassungsgericht bisher keine Hauptrolle. Christian Rath erklärt, wie es dazu kam und wie Karlsruhe seine Nebenrolle nutzt.
Noch nie gab es in Deutschland so massive Grundrechtseinschränkungen wie zur Bekämpfung der Corona-Pandemie. Darin sind sich wohl alle einig.
Individuelle Freiheitsrechte wie Versammlungs-, Religions- und allgemeine Handlungsfreiheit werden seit fast einem Jahr (mit einer Pause im Sommer 2020) eingeschränkt, um Kontakte zu reduzieren. Viele Unternehmen mit Publikumsverkehr dürfen aus dem gleichen Grund nicht öffnen. Ein Rechtsanspruch auf Entschädigung ist nicht vorgesehen.
Zentrale Entscheidungen werden dabei von Regierungen per Verordnung getroffen, nicht von Parlamenten. Auch die umstrittene Impfreihenfolge wurde per Verordnung bestimmt, nicht per Gesetz. Selbst für die Triage in Krankenhäusern gibt es bisher keine gesetzliche Regelung. All das wäre Stoff für ein Dutzend Großentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG).
Doch wie oft hat Karlsruhe seit Beginn der Pandemie interveniert? Ganze drei Mal. Und wann war das? Schon im April 2020, also vor fast einem Jahr. Die Aufgeregtheit der öffentlichen Debatte steht im umgekehrten Verhältnis zur Gelassenheit der Verfassungsrichter. Während Querdenker immer neue Indizien für eine Corona-Diktatur anprangern, hält sich das BVerfG scheinbar auffällig zurück.
Landesverordnungen mit anderen Wegen
Ein Grund für die Karlsruher Zurückhaltung liegt in der Struktur der Corona-Maßnahmen. Die Einschränkungen auf Grundlage des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) erfolgen gemäß dessen §§ 28, 28a und 32 durch Rechtsverordnungen der Bundesländer. Bei Rechtsverordnungen gilt aber nicht das Verwerfungsmonopol des BVerfG. Vielmehr können Landesverordnungen gem. § 47 Verwaltungsgerichtsordnung auch per Normenkontrolle durch Oberverwaltungsgerichte (OVG) bzw. Verwaltungsgerichtshöfe (VGH) angegriffen werden. Alle Flächenbundesländer haben diese Möglichkeit eingeräumt.
Deshalb liegt die Hauptarbeit der Verhältnismäßigkeitsprüfung von Corona-Maßnahmen bei den Oberverwaltungsgerichten. Diese haben auch schon relativ häufig Corona-Verordnungen ganz oder teilweise für nichtig erklärt.
So hat das OVG Niedersachsen beispielsweise entschieden, dass eine generelle Quarantäne für Auslandsrückkehrer unverhältnismäßig ist (Beschl. v. 11.05.2020, Az. 13 MN 143/20). Das OVG des Saarlands kippte ein generelles Prostitutionsverbot (Beschl. v. 06.08.2020, Az. 2 B 258/20). Das Verbot entgeltlicher Beherbergung wurde parallel vom OVG Niedersachsen (Beschl. v. 15.10.2020, Az. 13 MN 371/20) und vom VGH Baden-Württemberg (Beschl. v. 15.10.2020, Az. 1 S 3156/20) beanstandet. Zuletzt beendete der VGH Baden-Württemberg die dortige abendliche und nächtliche Ausgangssperre (Beschl. v. 05.02.2021, Az.: 1 S 321/21).
Oberverwaltungsgerichte mit bundesweiter Ausstrahlung
Die Beschlüsse der OVG beseitigten zwar unmittelbar nur die Verordnung im jeweiligen Bundesland. Wenn es aber um Maßnahmen ging, die in mehreren Ländern verordnet worden waren, hatten Entscheidungen eines Obergerichts doch meist Vorbildcharakter, strahlten also bundesweit aus.
Entlastet wurde das BVerfG auch durch Entscheidungen der Landesverfassungsgerichte. Vor allem der Bayerische Verfassungsgerichtshof wurde mit Hilfe der dortigen Popularklage immer wieder angerufen.
Das zunehmende Murren der Landesgerichte über die mangelhafte Rechtsgrundlage der Corona-Einschränkungen führte Mitte November sogar zu einer kurzfristigen Ergänzung des IfSG. Bevor eine Landesverordnung aus diesem Grund für nichtig erklärt werden konnte, beschloss der Bundestag den neuen § 28a IfSG.
Der Großteil der Entscheidungen auf Landesebene bestätigte allerdings die jeweils angegriffenen Corona-Verordnungen. Dies lag nicht zuletzt an den erschwerten Bedingungne einer Verhältnismäßigkeitsprüfung bei einem gefährlichen Geschehen mit vielen unbekannten Parametern und ständig wechselnden Rahmenbedingungen.
Die Karlsruher Corona-Statistik
Trotz der weitgehenden Primärzuständigkeit der Landesjustiz kamen beim BVerfG viele Corona-Verfassungsbeschwerden an. Im Jahr 2020 bezogen sich 240 Beschwerden auf Corona-Fragen, 170 davon waren mit einem Eilantrag verbunden. Hinzu kamen 72 reine Eilanträge. Im Jahre 2021 kamen bis Mitte Februar weitere 43 Verfassungsbeschwerden mit Corona-Bezug hinzu, davon 23 mit verbundenem Eilantrag. Weitere sieben reine Eilanträge gingen ein.
Die Zahlen stellen eine relevante Größe dar, aber sie bringen die BVerfG-Statistik mit ihren rund 5.500 Verfahrenseingängen pro Jahr nicht zum Explodieren. 2020 waren die Eingangszahlen wohl kaum höher als 2019. Nur die Zahl der Eilverfahren dürfte im Zuge der Corona-Krise auf ein Rekordniveau gestiegen sein. Die genauen Zahlen gibt das Gericht Anfang März bekannt.
Für die Verfahren ist ganz überwiegend der Erste Senat bzw. dessen Kammern zuständig. Das BVerfG hat keine Sonderzuständigkeit für Corona-Fragen eingerichtet. Vielmehr werden die Verfahren nach den üblichen Geschäftsverteilungsregeln auf die Dezernate verteilt.
Corona vor dem BVerfG: Fast alles abgelehnt
Die Corona-Eilanträge beim BVerfG wurden fast alle abgelehnt. Auch von den 283 Verfassungsbeschwerden (bis Mitte Februar) wurden bereits 231 abgelehnt und drei zurückgenommen. 49 Verfassungsbeschwerden mit Corona-Bezug sind noch anhängig. Aber das ist nur eine Momentaufnahme. Laufend kommen neue Verfahren hinzu, laufend werden Verfahren entschieden.
Soweit die Kammern die Ablehnung begründen, werden die Beschlüsse auf der Homepage des BVerfG veröffentlicht. Als Gründe für die Nichtannahme von Corona-Verfassungsbeschwerden wird meist auf die Nicht-Erschöpfung des Rechtswegs (Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde) verwiesen oder auf eine mangelhafte Begründung der Klage. Soweit Kläger strengere Maßnahmen zur Corona-Einämmung fordern oder Lockerungen für verfassungswidrig halten, betonen die Richter zudem den weiten Gestaltungsspielraum des Staates bei der Erfüllung seiner Schutzpflicht (z.B. BVerfG, Beschl. v. 12.05.2020, Az. 1 BvR 1027/20).
Impulse durch Stattgabe und Zurückweisung
Erfolg hatten beim BVerfG bisher nur drei Eilanträge, alle bereits im April 2020. Der erste erfolgreiche Eilanatrag betraf ein zu pauschales Versammlungsverbot in Gießen (Beschl. v. 15.04.2020, Az.: 1 BvR 828/20), geklagt hatte eine linke Projektwerkstatt. Auch der zweite stattgebende Beschluss betraf das Versammlungsrecht (Beschl. v. 17.04.2020, Az. 1 BvQ 37/20), hier hatten die frisch formierten Stuttgarter "Querdenker" Erfolg. Kurze Zeit später reüssierte noch ein niedersächsischer Moscheeverein (Beschl. v. 29.04.2020, Az. 1 BvQ 44/20). Auch hier ging es darum, ein generelles Verbot durch die Ermöglichung von Ausnahmeentscheidungen zu lockern.
Es entsteht der Eindruck, dass das BVerfG in der Frühphase der Pandemie den Fachgerichten den Weg zu einer etwas differenzierteren Rechtsprechung weisen wollte. Da es seitdem keine erfolgreichen Eilanträge und Verfassungsbeschwerden mehr gab, kann man davon ausgehen, dass die Bundesverfassungsrichterinnen und -richter mit der seitherigen Arbeit der Landesgerichte im Wesentlichen zufrieden waren.
Aber auch mit schnellen ablehnenden Entscheidungen setzte Karlsruhe Impulse und stärkte den Landesregierungen den Rücken. So veröffentlichte das Gericht Anfang April 2020 die Ablehnung eines Eilantrags gegen die bayerische Corona-Verordnung (Beschl. v. 07.042020, Az. 1 BvR 755/20). Die Entscheidung fiel aufgrund einer Folgenabwägung. Ebenfalls im Rahmen einer Folgenabwägung lehnte das Gericht einen Eilantrag gegen den November-Shutdown ab (Beschl. v. 11.11.2020, Az. 1 BvR 2530/20). Argumente waren damals u.a. die vorgesehene beschränkte Dauer bis Ende November und die Ankündigung von staatlichen Hilfen für Umsatzausfälle.
Harbarth im Interview
Eine weitere Karlsruher Möglichkeit, auf die öffentliche Debatte Einfluss zu nehmen, sind Interviews des BVerfG-Präsidenten Stephan Harbarth (etwa in der FAZ vom 14.11.2020 oder in der Rheinischen Post vom 10.02.2021). Wenn er sich verfassungsrechtlich zu Corona-Fragen äußert, wird dies viel mehr wahrgenommen, als wenn sich ein OVG-Präsident zu Wort meldet.
Natürlich nimmt Harbarth dabei keine ausstehenden Entscheidungen vorweg und vertritt auch keine juristisch überraschenden Thesen. Es geht eher darum, Positionen, die für Juristen selbstverständlich sein mögen, auch der nicht-juristischen Öffntlichkeit nahezubringen. So erläutert Harbarth etwa, dass die Grundrechte derzeit nicht suspendiert seien und dass derzeit auch kein Recht zum Widerstand bestehe. Auch das musste mal mit dem nötigen Nachdruck gesagt werden.
Das Bundesverfassungsgericht in der Coronakrise: . In: Legal Tribune Online, 22.02.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44324 (abgerufen am: 01.11.2024 )
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