Muss jeder Wähler die Vorschriften des Wahlrechts verstehen? Das BVerfG urteilt über die "kleine" Wahlrechtsreform der GroKo. Das BVerfG könnte Grundsätze aufstellen, die auch die "große" Ampel-Reform betreffen.
Der Bundestag hat zu viele Abgeordnete, da sind sich fast alle Parteien und Expert:innen einig. Uneinig ist man sich hingegen in der Frage, wie man das größte demokratisch gewählte Parlament der Welt verkleinern soll. Die Große Koalition hatte 2020 zunächst eine "kleine" Wahlrechtsreform verabschiedet, die für die Bundestagswahl 2021 ein weiteres Anwachsen des Parlaments verhindern sollte.
Doch war diese Änderung des Bundeswahlgesetzes (BWahlG) verfassungsgemäß?
Das entscheidet am Mittwochmorgen das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe (Az. 2 BvF 1/21). In der mündlichen Verhandlung im April hatte sich angedeutet, das reformierte BWahlG könnte zu kompliziert formuliert sein, damit die Wähler:innen es noch verstehen.
"Kleine" Reform stärkt Erststimme
Die "kleine" Wahlrechtsreform der GroKo sah insbesondere vor, dass bis zu drei Überhangmandate nicht durch Ausgleichsmandate kompensiert werden müssen. Es sind nämlich diese Überhang- und Ausgleichsmandate, die den Bundestag von eigentlich 589 Sitzen auf 709 Sitze in der GroKo-Legislatur bzw. aktuell 736 Sitze aufblähen.
Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei mehr Erststimmen erlangt, als ihr nach der Zweitstimmenverteilung zustehen. Die mit der Erststimme direkt gewählten Abgeordneten sollen ihren Sitz möglichst nicht verlieren, wenn die Partei im Bundesdurchschnitt wenig beliebt ist. Da aber die Zweitstimmen maßgeblich für die Sitzverteilung sein sollen, müssen die übrigen Parteien, die keine oder im Verhältnis weniger Überhangmandate errungen haben, dafür Ausgleichsmandate erhalten. Das hatte das Bundesverfassungsgericht 2012 entschieden, aber zugleich Raum gelassen für bis zu 15 unausgeglichene Überhangmandate.
Diesen Spielraum nutzte die GroKo mit der Klausel, die erst ab einer Zahl von vier Überhangmandaten eine Kompensation vorsieht. Dadurch wird die Erststimme im Vergleich zur Zweitstimme ein Stück weit gestärkt. Das sorgte für Protest bei den Parteien, die erfahrungsgemäß wenige oder keine Direktmandate gewinnen. So strengten Bundestagsabgeordnete aus den Fraktionen der Grünen, FPD und Linken, damals alle in der Opposition, eine abstrakte Normenkontrolle vor dem BVerfG an.
Wenn die Gesetzeslektüre selbst Verfassungsrichter stolpern lässt
Das BVerfG könnte am Mittwoch ein grundlegendes Urteil aber vor allem zu einer Frage fällen, die mit der Thematik der Direktmandate direkt nichts zu tun hat: der Verständlichkeit des Gesetzes. So erzählte Verfassungsrichter Ulrich Maidowski in der mündlichen Verhandlung, wie er sich beim Lesen des streitgegenständlichen § 6 BWahlG immer wieder verhake – und das trotz einer ”Eins im Mathe-Abi".
Auch Maidowskis Kollegen im Zweiten Senat widmeten sich dem "Gebot der Normenklarheit" mit für Prozessbeobachter überraschender Intensität. Dabei ging es unter anderem um die verfassungsrechtliche Anbindung dieses Gebots. Peter Müller, scheidender Verfassungsrichter und Berichterstatter im Verfahren, stellte die These in den Raum, dass der Menschenwürdegehalt des Demokratieprinzips allgemeinverständliche Wahlgesetze erfordere.
Gleichzeitig erkannte der Senat an, dass Wahlgesetze notwendigerweise komplex sind, nicht zuletzt wegen der Besonderheiten des personalisierten Verhältniswahlrechts, das Wahlkreis und Parteiliste kombiniert. Gerade zugunsten der Bestimmtheit der Wahlgesetze kann Komplexität erforderlich sein. Dass Bestimmtheit und Verständlichkeit nicht notwendigerweise miteinander einhergehen, machte auch die Diskussion in der mündlichen Verhandlung deutlich, als man zwischenzeitlich erwog, ob es sinnvoll wäre, mathematische Formeln ins Gesetz einzufügen.
In der mündlichen Verhandlung soll der Senat laut Prozessbeobachtern sogar kreativ geworden sein und über den gesetzlichen Tellerrand hinaus auf die Frage geschaut haben, wie man die Verständlichkeit des Wahlrechts mit Maßnahmen wie Informationsschreiben an die Bürgerin oder Begleitkampagnen sicherstellen könnte. Ob solche flankierenden Maßnahmen Bestandteil eines verfassungsrechtlichen Verständlichkeitsgrundsatzes werden können, und wie die Ausprägung konkret aussehen könnte, wird sich zeigen.
Auch Eilbeschluss gab keinen Fingerzeig
Über das Spannungsverhältnis zwischen notwendiger Komplexität und Verständlichkeit dürfte das BVerfG am Mittwoch grundlegende Worte finden. In welche Richtung der Zweite Senat tendiert, ist aber auch für Experten völlig offen.
In einem Eilbeschluss kurz vor der Bundestagswahl 2021 hatte der Senat schon den "erheblichen Komplexitätsgrad" der GroKo-Neuregelung festgestellt, die Reform allerdings nach der Abwägung zu befürchtender Folgen aufrechterhalten. Wie das BVerfG den Grundsatz konkret verfassungsrechtlich anbindet, welche Voraussetzungen es aus dem Gebot fürs Wahlrecht im Speziellen ableitet und ob die GroKo-Reform diese womöglich gerade noch so einhält, ist unklar.
Daneben setzte sich der Senat in der mündlichen Verhandlung mit der Erfolgswertgleichheit aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG und in die Chancengleichheit der Parteien aus Art. 21 Abs. 1 GG auseinander. Die Antragsteller:innen hatten gerügt, die teilweise Streichung der Ausgleichsmandate verletze diese Rechte. Schon im Eilbeschluss deuteten die Richter:innen an, wie diese Eingriffe zu rechtfertigen sein könnten: mit der "Funktionsfähigkeit des Bundestages". Hier bleibt abzuwarten, ob die Richter:innen einen neuen verfassungsrechtlichen Maßstab ausdifferenzieren.
Grundsatzurteil zum Wahlrecht?
Das BVerfG urteilt am Mittwoch zwar nur über die Wahlrechtsreform der GroKo. Das Urteil könnte auch für die jetzt gültige Ampel-Reform des Bundeswahlgesetzes relevant werden.
Zwar sind GroKo- und Ampel-Reform instrumentell verschieden: Die Ampel hat die Überhangmandate nicht gestärkt, sondern vielmehr gestrichen, und bei der Gelegenheit auch gleich die Grundmandatsklausel abgeschafft.
Doch ähnlich sind sich die Reformen hinsichtlich der Verständlichkeit. Zwar ist um drei Absätze ärmere § 6 BWahlG in seiner jetzigen Fassung schon deutlich übersichtlicher formuliert. Doch auch nach der Ampel-Reform strotzt das Wahlrecht insgesamt vor Querverweisen und befremdlichen Ausdrücken (die allerwenigsten dürften schonmal den "Zuteilungsdivisor heraufgesetzt" haben).
Und so könnte Karlsruhe am Mittwoch ein wegweisendes Grundsatzurteil für das geltende Wahlrecht verkünden, an dem sich auch das von der Ampel reformierte BWahlG messen lassen muss. Einige spekulieren gar, dass im Extremfall – gerade im Hinblick auf das Gebot der Verständlichkeit – weite Teile des bestehenden Bundes- und Landeswahlrechts verfassungswidrig sein könnten.
Die Ampel-Parteien und die Gegner ihrer Reform werden sich das Urteil des Zweiten Senats daher genau angucken. Denn beim BVerfG sind schon mehrere Verfahren gegen die Ampel-Reform anhängig: die CSU, die Linkspartei sowie Linksfraktion haben ein Organstreitverfahren gegen den Bundestag eingeleitet; die Bayerische Staatsregierung möchte die Verfassungswidrigkeit im Wege einer abstrakten Normenkontrolle feststellen lassen. Daneben hat der Verein "Mehr Demokratie" Verfassungsbeschwerde erhoben.
Beruhte die Bundestagswahl auf einem verfassungswidrigen Wahlrecht?
Angesichts dieser anhängigen Verfahren zum neuen Wahlrecht drängt sich die Frage auf: Warum sollte das BVerfG über ein nicht mehr geltendes Gesetz entscheiden?
Das fragten sich jedenfalls die Abgeordneten der Grünen und die FPD, die bekanntlich nach der Bundestagswahl 2021 in die Regierung wechselten, wo sie sich gemeinsam mit der SPD an der "großen" Wahlrechtsreform versuchen durften.
So stellten die ursprünglichen Antragsteller:innen Anfang des Jahres, also während die Ampel-Reform auf den Weg gebracht wurde, einen Antrag auf Anordnung des Ruhens des Verfahrens zur GroKo-Reform. Das BVerfG ließ die Abgeordneten indes mit Beschluss vom 22. März 2023 abblitzen.
Es entschied, dass an der verfassungsrechtlichen Kontrolle der mittlerweile veralteten Änderungen des BWahlG weiterhin ein öffentliches Interesse bestehe. Als Grund nannte es das gesondert vom BVerfG zu klärende Berliner Wahl-Chaos: In Berlin wird die 2021er Wahl wiederholt, nur der Umfang steht noch nicht fest (Entscheidung am 19. Dezember). Für diese Wiederholung gelten die im Jahr 2021 gültigen Normen (§ 44 Abs. 2 S. 1 BWahlG). Aber eben nur, soweit das BVerfG sie vorher nicht für nichtig erklärt.
Außerdem begründe die "Legitimations- und Integrationsfunktion" der Wahl dieses Interesse an der Feststellung, schließlich seien die amtierenden Abgeordneten des Bundestags auf Grundlage des GroKo-Wahlrechts gewählt. Das heißt: Ein Urteilsspruch aus Karlsruhe ist notwendig, um festzustellen, ob der aktuelle Bundestag auf verfassungsgemäßer Grundlage zustande kam. Und das geht nicht nur die Berliner:innen etwas an.
BVerfG urteilt über GroKo-Reform: . In: Legal Tribune Online, 28.11.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53281 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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