BVerfG überprüft Bundestagswahl: Führen lange War­te­zeiten zur Neu­wahl?

von Dr. Max Kolter

18.07.2023

Stimmabgaben nach 18 Uhr, lange Schlangen vor Wahllokalen und falsche Stimmzettel – die Mängelliste der Berliner "Pannenwahl" ist lang. In welchem Umfang dies zu Neuwahlen führen muss, wurde am Dienstag in Karlsruhe verhandelt.

Das nach der Berliner "Pannenwahl" beschädigte Vertrauen der Wähler wiederherstellen – darum geht es den Beteiligten am Dienstag vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Es wird die Wahlprüfungsbeschwerde der CDU/CSU-Fraktion verhandelt (Az. 2 BvC 4/23). Auch wenn Einigkeit über das Ziel herrscht, so sind die Beteiligten vor Verhandlungsbeginn doch geteilter Meinung darüber, wie man das Vertrauen der Wähler zurückgewinnt: durch Neuwahlen in 431 Berliner Wahlbezirken, wie es der Bundestag im November 2022 beschloss, oder in 1.200 Wahlbezirken, wie es die Union in etwa fordert.

Nur eine umfassende Neuwahl in all den Wahllokalen, in denen Unregelmäßigkeiten belegt seien, stelle das Vertrauen der Wähler in die Integrität der demokratischen Wahl wieder her, erklärt der CDU-Abgeordnete Patrick Schnieder das mit der Wahlprüfungsbeschwerde in Karlsruhe verfolgte Anliegen seiner Fraktion. SPD-Kollege Johannes Fechner, der den Bundestag in der Verhandlung vertritt, argumentiert hingegen: "Es geht um das Vertrauen der Wähler darin, dass eine einmal durchgeführte Wahl auch grundsätzlich Bestand hat." Es solle nur dort neu gewählt werden, wo schwere und mandatsrelevante Wahlfehler belegt seien. 

Dabei liegen beide Seiten gar nicht so weit auseinander: Jeder reklamiert schließlich für sich, nur dort neu wählen lassen zu wollen, wo Wahlfehler tatsächlich belegt seien. Der Streit dreht sich also primär um die Rechtsfrage: Was ist ein nur durch Neuwahl zu behebender Wahlfehler? Im Rahmen dessen ist die tatsächliche Frage zu klären: Was ist in den insgesamt 2.256 Berliner Wahllokalen am 26. September 2021 genau passiert? 

Sind Stimmabgaben erst nach 18.30 Uhr ein Wahlfehler? 

Unstreitig kam es in mehreren hundert Wahlbezirken der Hauptstadt zu langen Schlangen vor Wahllokalen, zeitweisen Schließungen und Stimmabgaben nach 18 Uhr. Mancherorts wurden falsche Stimmzettel ausgegeben, vereinzelt stimmten Personen ab, die nicht wahlberechtigt waren. Dies dokumentieren der Abschlussbericht der Expertenkommission "Wahlen in Berlin" vom Juli 2022 sowie zahlreiche Niederschriften aus einzelnen Wahllokalen. Beherzt stritten sich die Beteiligten am Dienstag über das Ausmaß, die Auswirkungen und die Rechtsfolgen dieser Pannen. 

Dass falsche Stimmzettel und die Abstimmung durch nicht zur Wahl Berechtigte Wahlfehler sind, hatte auch der Bundestag in seinem Beschluss vom November 2022, die Bundestagswahl nur – aber immerhin – in 431 Berlin Wahlbezirken wiederholen zu lassen, so gesehen. Aber das waren am 26. September 2021 wohl nur Einzelfälle. Deutlich häufiger waren lange Schlangen und Wartezeiten vor Wahllokalen und verspätete Stimmabgaben. 

Stimmabgaben nach 18 Uhr sind grundsätzlich nicht ordnungsgemäß, das ergibt sich aus § 47 Abs. 1 Bundeswahlordnung (BWahlO). Dort heißt es: "Die Wahlzeit dauert von 8 bis 18 Uhr." Gestritten wurde am Dienstag aber über eine in § 60 Satz 2 BWahlO geregelte Ausnahme, die es erlaubt, "Wähler zur Stimmabgabe zuzulassen, die vor Ablauf der Wahlzeit erschienen sind und sich im Wahlraum oder aus Platzgründen davor befinden."  

So hängen also lange Wartzeiten bzw. -schlangen und Stimmzeitüberschreitung zusammen. Nur: Sind dies schwere Wahlfehler, die eine Neuwahl rechtfertigen? Und geschah dies in einem mandatsrelevanten Umfang, d.h., hätte eine Neuwahl Einfluss auf die Sitzverteilung im Bundestag?

Der Wahlprüfungsausschuss hatte verspätete Stimmabgaben zwar als Grund für eine Neuwahl anerkannt. Diese seien sogar für 78 Prozent der fehlerbehafteten Wahlbezirke verantwortlich. Der Ausschuss hatte dabei allerdings eine Daumenregel angewendet, nach der Indiz für einen schweren Wahlfehler sei, wenn nicht nur nach 18 Uhr, sondern bis nach 18.30 Uhr gewählt worden sei.

Ob diese Daumenregel der Prüfung der Karlsruher Richter standhält, ist ungewiss. Die Unionsfraktion hält sie für beliebig. Der Bundestag hätte genauer prüfen müssen, aus welchen Gründen in welchen Wahlbezirken die reguläre Abstimmzeit von 18 Uhr überschritten worden sei. Die Fraktion sieht daher auch andere Wahlbezirke in denselben Wahlkreisen als "infiziert" an. Die belegten Fehler seien nur "die Spitze des Eisbergs", so Schnieder in der Verhandlung am Dienstag.

Gericht übt deutliche Kritik am Wahlprüfungsausschuss 

Auch das Gericht äußerte sein Unverständnis darüber, warum der Wahlprüfungsausschuss nicht die Niederschriften aus den einzelnen Wahllokalen angefordert hatte, um Fehler festzustellen. Stattdessen stützte sich der Bericht vor allem auf eine von der Landeswahlleitung Berlin erstellte Liste von Auffälligkeiten, auf Berichte von Bürgern und die gegen die Wahl erhobenen Einsprüche. 

Fast eine Stunde lang mussten der Prozessbevollmächtigte des Bundestags, Professor Heiko Sauer, und MdB Fechner, der als Mitglied des Wahlprüfungsausschusses den Beschluss vom November 2022 mitzuverantworten hat, dafür Rede und Antwort stehen. Dabei ging es um die Frage, inwiefern das Gericht im Rahmen der Wahlprüfungsbeschwerde eigene Tatsachenfeststellungen zu treffen hat oder an die Feststellungen von Fehlern durch den Wahlprüfungsausschuss gebunden ist, dieser also insofern "Sperrwirkung" entfaltet. Was also überprüft das BVerfG im Rahmen der Wahlprüfungsbeschwerde gemäß Art. 41 Abs. 2 GG – die Wahl selbst oder den Wahlprüfungsbeschluss des Bundestags gemäß Art. 41 Abs. 1 GG?

Während der Prozessbevollmächtigte der Unionsfraktion, Professor Bernd Grzeszick, zu seiner Rechtsauffassung, das BVerfG führe eine eigene Überprüfung der Wahl durch und müsse daher alle relevanten Tatsachen selbst feststellen, keine Rückfrage von der Richterbank ertragen musste, wurde sein Gegenüber hart drangenommen.  

Nachdem Sauer vertreten hatte, ein Recht zur eigenen Sachverhaltsaufklärung stehe dem BVerfG nur dort zu, wo der Wahlprüfungsausschuss des Bundestags den Sachverhalt fehlerhaft aufgeklärt habe, ging es los: Wenn schon die Einsprüche des Bundeswahlleiters und andere Berichte erhebliche Auffälligkeiten zeigen, liege es doch nahe, die Niederschriften aus den einzelnen Wahllokalen anzufordern. "Dann schaut man sich die Dinger doch mal an", polterte Richter Peter Müller – und fragte: "Warum hat der Bundestag von dieser naheliegenden Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht?" 

Sind lange Warteschlagen ein Wahlfehler? 

Ein weiterer Streitpunkt sind die Warteschlangen bzw. -zeiten. Nach Auffassung der Unionsfraktion sowie der Bundeswahlleiterin führten erhebliche Wartezeiten dazu, dass Wähler die Schlange verließen und nicht mehr zurückkehrten. Wahlberechtigte, die noch zuhause über soziale Medien von den langen Wartezeiten erfuhren, würden von vornherein davon abgeschreckt, überhaupt in Richtung Wahllokal aufzubrechen. Dies beeinträchtige die Freiheit und Gleichheit der Wahl gem. Art. 38 Abs. 1 GG – die Wartezeit selbst sei der Wahlfehler. 

Doch wann ist eine Wartezeit zu lang? Bundeswahlleiterin Dr. Ruth Brand sieht dies schon ab 30 Minuten als gegeben an. Grzeszick führte zur Untermauerung ein Urteil des Thüringer Oberverwaltungsgerichts aus dem Jahr 1996 an, wonach eine Wartezeit von 15 bis 30 Minuten bei Kommunalwahlen noch zumutbar seien. Doch kann das auch für eine Bundestagswahl gelten, die mit einer Wahl des Landesparlaments (Abgeordnetenhauses), der örtlichen Bezirksvertretungen und einem Volksentscheid verbunden wird? Die Karlsruher Verfassungshüter ließen Zweifel erkennen. 

Wartezeiten als Planungsfehler?

Weiterhin diskutierten die Beteiligten am Dienstag hitzig, ob eine lange Wartezeit unabhängig davon einen Wahlfehler darstellen kann, ob diese auf einem Planungsfehler beruht. 

Dies verneinte der (heutige) Landeswahlleiter, Professor Stephan Bröchler, nach dessen Ansicht weitere Umstände zu berücksichtigen seien, die zu längeren Wartezeiten führen könnten. Denn zusätzlich zur Bundestagswahl, der Wahl zum Abgeordnetenhaus, der Wahl der Bezirksvertretungen und dem Volksentscheid fiel auf diesen Septembertag in der Corona-Pandemie auch noch der Berlin-Marathon. Daher strömten laut Bröchler, der auch Mitglied der Expertenkommissionen Wahlen war, viele Wähler erst am Nachmittag gemeinsam in die Wahllokale.

Bröchler wollte daher insbesondere kein "systemisches" Versagen der Wahlleitung sehen, in vielen Bezirken sei die Wahl reibungslos verlaufen. Dennoch musste er auf Nachfrage eingestehen, dass die Wahllokale überwiegend mit nur zwei Wahlkabinen ausgestattet waren, drei Kabinen aber wohl ausgereicht hätten, um den Ansturm zu bewältigen. Zudem seien pro Berliner Wähler zwei Minuten zu wenig veranschlagt worden, um die immerhin fünf Kreuze zu setzen. Man sei stattdessen von den bei sonstigen (einfachen) Wahlen üblichen drei Minuten ausgegangen. 

Grzeszick hielt dem § 46 Abs. 1 Satz 2 WahlO entgegen: "Die Wahlräume sollen nach den örtlichen Verhältnissen so ausgewählt und eingerichtet werden, dass allen Wahlberechtigten […] die Teilnahme an der Wahl möglichst erleichtert wird." Demnach sei alles ein Wahlfehler, was die Wahlabgabe nicht "möglichst erleichtert". Eine unzureichende Ausstattung mit Wahlkabinen oder die unterlassene nachträgliche Aufstellung solcher stellten daher Wahlfehler dar.

Neuwahl wohl erst im Winter

Ob das BVerfG dazu neigt, der Beschwerde der CDU/CSU-Fraktion stattzugeben, ließ es bis zum Nachmittag nicht durchblicken. Zwar hatte Berichterstatter Peter Müller die Vorkommnisse in Berlin schon in der Vergangenheit als "Skandalwahl" kritisiert, wie man sie in einem "diktatorischen Entwicklungsland" erwarten würde. Die Richter machten auch keinen Hehl daraus, dass sie die Geschehnisse für noch nicht hinreichend aufgeklärt halten. Daraus lässt sich aber nicht ableiten, dass sie am Ende – wie es die Union fordert – in mehr als der Hälfte der Berliner Wahlbezirke Neuwahlen anordnen.

Bis ein Urteil ergeht, könnten noch ein paar Monate vergehen. Neben der Beschwerde der Unionsfraktion sind weitere 61 Beschwerden anhängig. Ob und wann darüber verhandelt wird, ist laut Aussage des BVerfG-Sprechers Jonas Heimbach gegenüber LTO am Montag noch unklar.

Sobald das Urteil ergeht, hat die Landeswahlleitung 60 Tage Zeit, die Wahl durchzuführen (§ 44 Abs. 3 Bundeswahlgesetz). Wie gut die Neuwahl in der Hauptstadt gelingen wird, hänge vom Umfang der Neuwahlen und damit auch vom Karlsruher Urteil ab, so Wahlleiter Bröchler gegenüber dem Tagesspiegel: "Für eine vollständige Wiederholungswahl reicht das Geld nicht mehr aus."

Zitiervorschlag

BVerfG überprüft Bundestagswahl: . In: Legal Tribune Online, 18.07.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52264 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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