Am Mittwoch verkündet das BVerfG sein Urteil zum Nachtragshaushalt 2021 – nur einen Tag vor einer wichtigen Haushaltssitzung im Bundestag. Es geht um die Schuldenbremse und um bis zu 60 Milliarden Euro. Christian Rath gibt einen Überblick.
Bundesregierung und Bundestag schauen morgen mit großer Spannung nach Karlsruhe. Am Mittwoch wird das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) über die Normenkontrollklage von 197 Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion gegen den zweiten Nachtragshaushalt 2021 entscheiden.
Das Urteil hat große Bedeutung, denn es ist die erste Karlsruher Entscheidung zur 2009 eingeführten Schuldenbremse. Und es geht um bis zu 60 Milliarden Euro, die der Bundeshaushalt möglicherweise zusätzlich verkraften muss. Bei einem geplanten Gesamtvolumen des Bundeshaushalts 2024 von 445 Milliarden Euro wäre das ein riesiger Brocken, vor allem mit Blick auf die Schuldenbremse.
Koinzidenz der Ereignisse: Einen Tag nach dem Karlsruher Urteil trifft sich in Berlin der Haushaltsausschuss zu seiner so genannten Bereinigungssitzung für den Haushalt 2024. Hier sollen die letzten Details des Haushaltsgesetzes geklärt werden, das der Bundestag in der Sitzungswoche vom 28. November bis 1. Dezember endgültig beschließen will.
Verkündet Karlsruhe sein Urteil einen Tag vor der Bereinigungssitzung, um das Parlament gerade noch rechtzeitig über die neuesten Hiobsbotschaften zu unterrichten? Oder will man die Abgeordneten vor der entscheidenden Sitzung beruhigen, dass es doch nicht so schlimm kommen wird? Oder ist die Koinzidenz einfach Zufall, weil für das gottgleiche Verfassungsgericht der Zeitplan des Bundestags gar nicht so wichtig ist?
Worum es geht
Das BVerfG muss über ein spektakuläres Haushaltsmanöver der Ampel-Koalition entscheiden. Im Februar 2022 wurden 60 Milliarden Euro in ein Sondervermögen verschoben, das heute Klima- und Transformationsfonds (KTF) heißt. Die Kreditermächtigungen waren ursprünglich für die Corona-Politik eingeplant, wurden dann aber doch nicht dafür benötigt. Im zweiten Nachtragshaushalt für das Jahr 2021 beschloss der Bundestag im Februar 2022, diese Kreditermächtigungen dem Klimafonds zur Verfügung zu stellen. Das Sondervermögen wurde damit von 40 auf 100 Milliarden Euro aufgestockt.
Die Summe wurde in voller Höhe im Jahr 2021 verbucht, obwohl das Geld erst in den Folgejahren ausgegeben werden sollte und soll. Die Buchungssystematik des Haushaltsrechts wurde zuvor entsprechend angepasst. Dieses Manöver ermöglichte es der Ampel-Koalition, die Schuldenbremse in den Jahren 2023 und - so ist es bisher geplant - auch 2024 wieder einzuhalten, nachdem sie von 2020 bis 2022 vor allem wegen der Corona-Epidemie ausgesetzt war.
Die klagenden Union-Abgeordneten halten das Manöver für verfassungswidrig, denn die Schuldenbremse werde hier gezielt ausgetrickst. Die Kläger:innen verweisen auf Art. 115 Abs. 2 Satz 6 Grundgesetz. Ausnahmen von der Schuldenbremse sind danach nur bei Naturkatastrophen und außergewöhnlichen Notsituationen möglich. Die Klimakrise gilt nicht als derartige Notlage, weil sie nicht überraschend kommt; ihre Kosten seien aus dem normalen Haushalt zu finanzieren - unter Einhaltung der Schuldenbremse.
Nach Ansicht der Ampel-Koalition ist die Verlagerung der 60 Milliarden Euro Kreditermächtigungen jedoch voll von der Ausnahmeklausel gedeckt. Denn die Ausgaben des KTF seien erforderlich, um die Wirtschaft nach der Corona-Epidemie wieder anzukurbeln. Dass die Investitionen gleichzeitig dem Klimaschutz dienen, ändere nichts am Bezug zur Corona-Krise.
Wichtige Grundsatzfragen sind zu klären
Das BVerfG muss nun entscheiden, wie die Ausnahmeklausel des Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG handzuhaben ist. Darf der Staat mit den zusätzlichen Krediten nur die unmittelbaren Kosten der Notlage begleichen oder auch eine Wiederankurbelung der Wirtschaft finanzieren? Der Wortlaut des Grundgesetzes ("könnte diese Kreditobergrenze überschritten werden") lässt beides zu.
Falls der Staat auch notlagenbedingte Investitionsprogramme finanzieren darf, müsste der Umfang geklärt werden. Gibt es gar keine Grenzen oder gilt eine Art Verhältnismäßigkeitsprinzip, wonach die Konjunktur-Programme erforderlich und angemessen sein müssen? Und soll das Bundesverfassungsgericht dann kleinteilig die Konjunkturpolitik der Bundesregierung auf ihre Erforderlichkeit prüfen oder genügt es, wenn die Politik Darlegungspflichten erfüllt?
Hier droht der Ampel vermutlich nicht allzu viel Gefahr. Schließlich konnte sie in der mündlichen Verhandlung am 22. Juni 2023 darlegen, dass die Pandemie in Deutschland Investitionsausfälle von 53 Milliarden Euro verursachte, weshalb die zusätzlichen 60 Milliarden Euro für den Klimafonds eine erforderliche und angemessene wirtschaftspolitische Reaktion seien.
Das zweite und für die Koalition brenzligere Thema dürfte die Verbuchung der Kreditermächtigungen sein. Wenn die zusätzlichen Milliarden zwar alle 2021 verbucht, aber erst in den Folgejahren ausgegeben werden, könnte das gegen die gängigen haushaltsrechtlichen Prinzipien der Jährlichkeit, Jährigkeit und Fälligkeit verstoßen. "Jährlichkeit" meint, dass ein Haushaltsplan für jedes Jahr aufzustellen ist. "Jährigkeit" bedeutet, dass Ermächtigungen im jeweiligen Haushaltsjahr in Anspruch genommen werden müssen.
Das Bundesverfassungsgericht tendiert wohl dazu, diese Prinzipien in die grundgesetzlichen Regeln der Schuldenbremse hineinzulesen, damit diese nicht so leicht umgangen werden kann. In einem Beschluss des Zweiten Senats (Beschl. vom 22. November 2022, Az.: 2 BvF 1/22), mit dem der Unions-Antrag auf eine einstweilige Anordnung abgelehnt wurde, deuteten die Richter:innen an, dass sie "insbesondere" hier verfassungsrechtliche Probleme sehen.
Was heißt das für die Politik?
Wenn das "Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021" aus diesem Grund gegen das Grundgesetz verstößt, dann würde es vom Bundesverfassungsgericht wohl für nichtig erklärt. Das heißt, die Kreditermächtigungen in Höhe von 60 Milliarden Euro stünden dem Klima- und Transformationsfonds nicht zur Verfügung.
Der KTF gibt seine Milliarden vor allem aus für die Förderung klimafreundlicherer Gebäude, für die Dekarbonisierung der Industrie, den Aufbau der Wasserstoffwirtschaft, die Förderung der E-Mobilität, die Sanierung der Bahn, die Senkung des Strompreises und die Subventionierung einer Halbleiterfabrik.
Wenn dem Fonds plötzlich 60 Milliarden Euro fehlen, müsste die Bundesregierung sofort einen Kassensturz machen und feststellen, wieviel der KTF bereits ausgegeben hat und welche Summen akut fehlen. Für 2023 waren Ausgaben in Höhe von rund 36 Milliarden Euro geplant. Im Jahr 2024 soll der Fonds planmäßig sogar rund 57 Mrd. Euro ausgeben. Allerdings war der Fonds, als ihm die zusätzlichen 60 Milliarden Euro zugeführt wurden, nicht leer, sondern wies bereits 40 Milliarden Euro Rücklagen auf. Außerdem hat der KTF eigene Einnahmen aus dem CO2-Emissionshandel von jährlich knapp 16 Milliarden Euro (2023) bzw. rund 19. Milliarden Euro (2024).
Vermutlich bräuchte der Fonds also selbst im schlimmsten Fall nicht sofort 60 Milliarden Euro, wenn er die geplanten Programme weiterhin umsetzen will. Beträchtliche neue Zuführungen aus dem Bundeshaushalt wären aber wohl erforderlich - sowohl in diesem Jahr als auch in den Folgejahren. Der Bundestag müsste das Geld dann an anderer Stelle kürzen oder die Steuern erhöhen oder erneut eine Ausnahme von der Schuldenbremse beschließen.
Der letzte Ausnahme-Beschluss des Bundestags im Sommer 2022 argumentierte bereits nicht mehr ausschließlich mit der Corona-Epidemie, sondern auch mit den finanziellen Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Auf die Folgen der Ukrainekrise und die erforderliche Umstellung der deutschen Energieversorgung kann sicher auch im Jahr 2023 als "außergewöhnliche Notsituation" verwiesen werden, vielleicht auch noch 2024. Ohnehin weiß noch niemand, welche ökonomischen Folgen der Nahost-Konflikt haben wird und ob China Taiwan angreift. An realen und potenziellen haushaltsrelevanten Großkrisen besteht derzeit wirklich kein Mangel.
Sollte das Bundesverfassungsgericht also das "Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021" kippen, bliebe die Bundespolitik vermutlich handlungsfähig. Ein Haushaltskollaps droht jedenfalls nicht. Es wäre dann aber keine rechtliche, sondern eine politische Frage, wie diese Handlungsfähigkeit hergestellt wird. Wird Finanzminister Christian Lindner (FDP) weitere Jahre ohne Einhaltung der Schuldenbremse ertragen oder wird er auf massive Kürzungen bei den Klima-Ausgaben und/oder im übrigen Haushalt dringen?
Vor dem BVerfG-Urteil zur Schuldenbremse: . In: Legal Tribune Online, 14.11.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53164 (abgerufen am: 07.11.2024 )
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