Das BVerfG hat seine Kontrolle von Hoheitsübertragungen auf formelle Fragen ausgeweitet. Dabei hat es das Zustimmungsgesetz zum Einheitlichen Patentgericht gestoppt, weil die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit fehlte.
Die Entscheidung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschluss vom 13. Februar 2020, 2 BvR 739/17) hat nicht nur für das europäische Patentrecht große Bedeutung, sondern auch für die Rolle des BVerfG in der Europapolitik. Das knappe Abstimmungsergebniss (5 zu 3 Richterstimmen) deutet zudem eine vordringende neue Linie des Verfassungsgerichts an.
Schon lange versucht die EU, die Patentvergabe effizienter zu gestalten. Derzeit können zwar Patentanträge zentral vom Europäischen Patentamt (EPA) in München geprüft und entschieden werden. Damit das Patent dann aber konkret wirksam wird, muss es in jedem EU-Staat "validiert" werden. Dabei gelten teilweise unterschiedliche Regeln, was die Verfahren teuer und aufwändig macht. Ziel ist daher, dass das EPA so genannte Einheitspatente vergeben kann, die automatisch in der ganzen EU gelten.
Eine Reform auf EU-Ebene scheiterte nach langen Verhandlungen, weil Spanien und Italien nicht auf eine Übersetzung der Patente in ihre Landessprachen verzichten wollten. Deshalb beschlossen 2012 die damals übrigen 25 EU-Staaten, das Einheitspatent im Wege der "verstärkten Zusammenarbeit". Die europäische Patentreform bestand aus zwei Verordnungen und einem völkerrichtlichen Vertrag, mit dem ein "Einheitliches Patentgericht" geschaffen werden sollte. Nur um diesen Vertrag ging es jetzt vor dem Bundesverfassungsgericht.
Nur 35 Abgeordnete für das Gesetz
Das Zustimmungsgesetz zum Übereinkommen über ein Einheitliches Patentgericht (EPGÜ-ZustG) stand im März 2017 im Bundestag zur Abstimmung und wurde einstimmig angenommen. Postwendend erhob jedoch der Düsseldorfer Rechtsanwalt Dr. Ingve Björn Stjerna Verfassungsbeschwerde gegen das Zustimmungsgesetz. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bat daraufhin den Bundespräsidenten informell, das Gesetz vorerst nicht zu unterzeichnen.
Seitdem ruhte die Europäische Patentreform. Zwar könnte das Abkommen bereits in Kraft treten, wenn es von 13 Staaten ratifiziert ist - was der Fall ist. Allerdings müssen auch die drei Vertragsstaaten mit dem größten Patentaufkommen dabei sein, und hierzu zählt auch Deutschland. Damit war das Inkrafttreten bisher blockiert.
Drei Jahre später veröffentlichte der Zweite Senat des BVerfG nun endlich seine Entscheidung. Allerdings gab die Richtermehrheit der Verfassungsbeschwerde statt. Dem Zustimmungsgesetz habe die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit aller Mitglieder des Bundestags gefehlt. Zwar wurde das Gesetz damals einstimmig beschlossen. Im Plenarsaal waren jedoch nur rund 35 Abgeordnete anwesend.
Zwei Drittel aller Abgeordneten waren erforderlich
Das EPGÜ-ZustG übertrage, so die Argumentation der Richter, Rechtsprechungsaufgaben auf ein supranationales Gericht. Damit bewirke es eine materielle Verfassungsänderung. Die Übertragung betreffe nicht nur den Grundrechtsschutz, sondern auch die Gewaltenteilung. Für diese materielle Verfassungsänderung wäre nach Art. 23 Abs 1 Grundgesetz (GG) auch eine Zwei-Drittel-Mehrheit der Mitglieder von Bundestag und Bundesrat erforderlich, so die Verfassungsrichter.
Zwar gilt Art. 23 Abs. 1 GG dem Wortlaut nach nur für "die Begründung der Europäischen Union sowie für Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen und vergleichbare Regelungen, durch die dieses Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden". Das BVerfG nahm nun aber an, dass die Übertragung von Hoheitsrechten auf das Einheitliche Patentgericht eine "funktional äquivalente Regelung" zu einer Änderung der EU-Verträge darstellt. Schließlich stehe das geplante Einheitliche Patentgericht in einem "Ergänzungs- oder sonstigem besonderen Näheverhältnis zum Integrationsprogramm der Europäischen Union".
Da das EPGÜ-ZustG nicht die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit der Bundestagsabgeordneten erzielte, war es "nicht wirksam beschlossen" und daher nichtig, so das Urteil.
Fünf zu drei Richterstimmen
Die Entscheidung fiel im Zweiten Senat mit fünf zu drei Richterstimmen. Die drei Richter Ulrich Maidowski, Doris König und Christine Langenfeld schrieben ein Minderheitsvotum. Sie wehrten sich dabei ausschließlich gegen die Zulässigkeit der Klage.
Die Mehrheit hatte die Zulässigkeit wie bei EU-Fragen üblich auf das Wahlrecht des Bürgers aus Art. 38 GG gestützt, das auch vor einer unzulässigen Übertragung von Hoheitsrechten schütze. Dabei bestehe auch Anspruch auf eine "formelle Übertragungskontrolle" durch das Bundesverfassungsgericht. Die Minderheit kritisierte, dass die Argumentation mit Art. 38 GG ihre "Konturen vollends verliere", wenn sie nun auch auf die Einhaltung der formellen Voraussetzungen für die Übertragung von Hoheitsrechten (hier die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit) ausgeweitet werde.
Die drei Minderheitsrichter machen sich Sorgen, dass der Bundestag nun bei "so gut wie jeder Kompetenzübertragung" im weiteren EU-Kontext eine Zwei-Drittel-Mehrheit anstreben müsse, um kein Risiko einzugehen. Dies könne weitere Integrationsschritte verhindern oder erheblich verzögern. Die Richter erinnern daran, dass über Artikel 24 GG Hoheitsrechte durchaus mit einfacher Mehrheit übertragen werden können. Die Richtermehrheit verenge den Gestaltungsspielraum des Parlaments, was den von Art. 38 GG beabsichtigten Schutz des demokratischen Prozesses in sein Gegenteil verkehren könne, so der Vorwurf der Minderheit.
Die drei Minderheitsrichter kommen nicht aus dem selben politischen Lager. Maidowski und König wurden einst von der SPD vorgeschlagen, Langenfeld von der CDU/CSU. Es fällt aber auf, dass es die drei zuletzt gewählten Richter am Zweiten Senat sind. Es entsteht also der Eindruck, dass die demokratische Wahl der Verfassungsrichter in EU-Fragen zu einer wieder zurückhaltenderen Karlsruher Politik und Rechtsprechung führen wird. Schließlich wird schon in wenigen Wochen der Gerichtspräsident und Senatsvorsitzende Andreas Voßkuhle ausscheiden. Je nach Wahl des Nachfolgers könnte die bisherige expansive Linie des Zweiten Senats bereits dann ihre Mehrheit verlieren.
Patentreform könnte weitergehen
Wie aber geht es nun mit dem EPGÜ-ZustG weiter? Eine Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat klingt angesichts der einstimmigen Beschlussfassung im Jahr 2017 gut erreichbar. Dann könnte der Bundespräsident das Gesetz endlich unterschreiben und das Übereinkommen in Kraft treten.
Zwar könnte Anwalt Stjerna oder ein anderer Kläger dann wieder Verfassungsbeschwerde einlegen. Das Gericht hat auch die materiellen Einwände gegen das Einheitliche Patentgericht (etwa zur Auswahl der Richter) noch nicht behandelt. Allerdings wurden die Klagen insoweit auch von der Richtermehrheit des Zweiten Senats mangels Beschwerdebefugnis für unzulässig erklärt.
Christian Rath, BVerfG zum Einheitlichen Patentgericht: . In: Legal Tribune Online, 21.03.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41001 (abgerufen am: 02.11.2024 )
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