Handelsblatt siegt vor dem BVerfG: Gerichte müssen anony­mi­sierte Urteile her­aus­geben

von Pia Lorenz

29.10.2015

Das BVerfG stärkt das Auskunftsrecht der Presse. Dass dem Handelsblatt keine Kopie eines noch nicht rechtskräftigen Urteils gegen den Ex-Innenminister Thüringens zugeschickt wurde, verletzt den Verlag in seinem Grundrecht auf Pressefreiheit.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat der Verfassungsbeschwerde des Handelsblatts gegen eine Entscheidung des Thüringer Oberverwaltungsgerichts (OVG) stattgegeben und das Verfahren zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen (Beschl. v. 14.09.2015, Az. 1 BvR 857/15). Das OVG hatte es mit einer stark kritisierten Entscheidung im Eilrechtsschutzverfahren abgelehnt, einen Landgerichtspräsidenten zur Zusendung einer anonymisierten Urteilskopie über ein Strafverfahren zu verpflichten, das von großem Medieninteresse begleitet wurde.

Konkret ging es dem Handelsblatt um die Übersendung einer anonymisierten Urteilskopie aus einem Strafverfahren vor dem Landgericht (LG) gegen den ehemaligen Innenminister Thüringens. Diesen hatte das LG wegen Vorteilsannahme in zwei Fällen und Abgeordnetenbestechung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten zur Bewährung verurteilt. Eine weitere Person wurde gesondert strafrechtlich verfolgt. Der Bundesgerichtshof (BGH) bestätigte den Schuldspruch des Ex-Innenministers später wegen Abgeordnetenbestechung und Vorteilsnahme, in einem anderen Fall sprach er den Politiker vom Vorwurf der Vorteilsnahme frei.

Während das VG Meiningen den Präsidenten des Landgerichts noch verpflichtet hatte, die anonymisierte Kopie der vollständigen Entscheidung zu erteilen, lehnte das OVG Thüringen den darauf gerichteten Antrag auf Auskunftserteilung ab. Eine Übersendung des vollständigen Urteils, das zu dem Zeitpunkt noch nicht rechtskräftig war, könnte - zumal sie im Eilverfahren die Hauptsache vorwegnehmen würde - die sachgemäße Durchführung des Strafverfahres gefährden, so die Thüringer Richter. Zwar verpflichte das Thüringer Pressegesetz zur Erteilung einer Auskunft, es gebe aber keinen Anspruch der Presse auf Einsichtnahme in Behördenakten oder eine Kopie davon.

BVerfG: Pflicht zur Veröffentlichung anonymisierter Urteile

So weit, so richtig, befand auch das BVerfG mit einer am Donnerstag veröffentlichten Entscheidung. Und dennoch hat das OVG mit seiner Entscheidung den Handelsblatt-Verlag in seinem Grundrecht auf Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG verletzt, so die 3. Kammer des Ersten Senats.

Ein direkter Anspruch auf Akteneinsicht bestehe nicht, weil die Pressegesetze den auskunftspflichtigen Behörden einen Ermessensspielraum bei der Frage nach Art und Umfang der Auskunft zugestehen.

Das BVerfG macht aber deutlich, dass für die Übersendung von Urteilsgründen anderes gilt: Aus dem Rechtsstaatsgebot einschließlich der Justizgewährungspflicht, dem Demokratiegebot und dem Grundsatz der Gewaltenteilung folge grundsätzlich eine "Rechtspflicht zur Publikation veröffentlichungswürdiger Gerichtsentscheidungen". Diese Pflicht erstrecke sich nicht nur auf rechtskräftige Entscheidungen, sondern könne bereits vor Rechtskraft greifen.

Presserechtler Martin W. Huff, der die Entscheidung des OVG Thüringen deutlich kritisiert hatte, begrüßt den Beschluss aus Karlsruhe: "Das BVerfG hat endlich klargestellt, dass die Medien einen Anspruch darauf haben, dass ihnen Gerichtsentscheidungen in anonymisierter Form zur Verfügung gestellt werden. Etwas anders wäre auch in Zeiten der Transparenz auch unmöglich". Die Kenntnis einer Gerichtsentscheidung im Wortlaut sei für die Medien oft von entscheidender Bedeutung, nicht nur im Strafverfahren: "Die Öffentlichkeit hat einen Anspruch darauf, nicht nur eine Pressemitteilung zu kennen, sondern die genauen Formulierungen der Richter".

Keine Ausnahme bei nur möglicher Verfahrensgefährdung

Inwieweit die Beeinträchtigung des weiteren oder auch anderer laufender Gerichtsverfahren diese grundsätzliche Zugänglichkeit von Gerichtsentscheidungen für die Presse ändern könnte, hat das BVerfG in seiner Entscheidung offen gelassen. Die vom OVG Thüringen angeführten Gründe jedenfalls reichten nicht aus, um das Urteil des LG zurückzuhalten.

Sie ließen eine Gefährdung des noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens oder weiterer Strafverfahren nicht erkennen, so die Karlsruher Richter. Dass ein noch nicht rechtskräftiges Verfahren möglicherweise gefährdet werden könnte, genüge zur Ablehnung eines auf Herausgabe der Urteilsabschrift gerichteten Auskunftsanspruchs nicht.

Das BVerfG nimmt eine Abwägung vor: Beim Thüringischen Innenminister handelt es sich um eine Person des öffentlichen Lebens, in dem Verfahren ging es um strafrechtliche Vorwürfe mit öffentlichem Bezug. Vor diesem Hintergrund hätte das Gericht das Urteil nur dann vollständig unter Verschluss halten dürfen, wenn konkrete Anhaltspunkte unmittelbar und dringend die Gefahr nahegelegt hätten, dass das Strafverfahren vereitelt, erschwert, verzögert oder zumindest gefährdet würde. Solche Anhaltspunkte sahen die Richter ebensowenig wie Hinweise dafür, dass das Handelsblatt ihm obliegende mediale Sorgfaltspflichten und die Rechte Dritter nicht respektieren würde. 

Für Huff ist klar, wie das OVG nach der Zurückverweisung des höchsten deutschen Gerichts entscheiden muss: "Die Richter in Karlsruhe haben damit die verfehlte Argumentation des OVG in Thüringen bereinigt. Nun kommt meines Erachtens das OVG nicht mehr darum herum, der Redaktion des Handelsblatts das Urteil zu übersenden". 

acr/LTO-Redaktion

Zitiervorschlag

Pia Lorenz, Handelsblatt siegt vor dem BVerfG: . In: Legal Tribune Online, 29.10.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17367 (abgerufen am: 05.11.2024 )

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