Streit um Vorsitz in Bundestagsausschüssen: Setzt sich die AfD in Karls­ruhe durch?

Gastbeitrag von Dr. Sebastian Roßner

06.01.2022

Die AfD-Fraktion ist mit ihren Kandidaten für den Vorsitz von drei Bundestagsausschüssen gescheitert und hat das BVerfG angerufen. Wie es um die rechtlichen Erfolgsaussichten dieser Organklage steht, hat Sebastian Roßner analysiert.

Über viele Legislaturperioden hinweg lief die Verteilung der bundestagsinternen Funktionen auf die verschiedenen Fraktionen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, geräuscharm und fast reibungslos. Doch seit dem Einzug der AfD in den Bundestag hakt es im Getriebe. Abgesehen davon, dass es in der vergangenen Legislaturperiode keiner der vorgeschlagenen AfD-Kandidaten als Vizepräsidenten des Bundestages gewählt wurde, kam es auch zur Abwahl des AfD-Abgeordneten Stephan Brandner vom Vorsitz des Justizausschusses. Die AfD-Fraktion strengte dagegen ein Organstreitverfahren an, das in der Hauptsache noch beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) anhängig ist.

Als nach der Bundestagswahl und der der Bildung der neuen Bundesregierung die Ausschüsse des Bundestages neu konstituiert und besetzt wurden, fielen die Kandidaten der AfD für die drei Ausschussvorsitze, die der Fraktion nach den Regelungen der Geschäftsordnung zustehen (darunter auch der Innenausschuss), bei der Wahl in den jeweiligen Ausschüssen durch. Auch ist nicht abzusehen, dass in Zukunft ein Bundestagsvizepräsident der AfD durch das Bundestagsplenum gewählt werden wird. Die AfD-Fraktion ist nun erneut den Gang nach Karlsruhe angetreten. Organklage und ein entsprechender Antrag auf einstweilige Anordnung liegen dem BVerfG seit dem 31.12.2021 vor (2 BvE 10/21). Zuvor hatte die AfD dies bereits gegenüber LTO angekündigt.

Das BVerfG wird dann einige Probleme zu lösen haben, die nicht trivial sind und sich bereits auf Ebene des parlamentarischen Geschäftsordnungsrechts widerspiegeln.

Verstoß gegen die Geschäftsordnung des Bundestages?

Es widerspricht der deutschen parlamentarischen Tradition und dem Stellenschlüssel gemäß § 12 Geschäftsordnung des Bundestages (GO-BT), die Personalvorschläge der AfD-Fraktion permanent abzulehnen. Denn § 12 GO-BT legt fest, dass die die Fraktionen nach dem Verhältnis ihrer Stärke berücksichtigt werden müssen, und zwar ausdrücklich auch bei der Vergabe der Ausschussvorsitze. Zudem billigt § 2 Abs. 1 S. 2 GO-BT jeder Fraktion mindestens eine Vizepräsidentenstelle zu.

Andererseits spricht § 2 Abs. 1 S. 1 BT-GO von einer Wahl der stellvertretenden Bundestagspräsidenten. Nach § 58 GO-BT  "bestimmen" die Ausschüsse ihre Vorsitzenden "nach den Vereinbarungen im Ältestenrat". Bereits in der Geschäftsordnung selbst ist also ein Spannungsverhältnis angelegt zwischen dem Grundsatz der Wahl, der auch die Möglichkeit einschließt, einen Kandidaten nicht zu wählen, und der proportionalen Beteiligung der Fraktionen an der Stellenvergabe.

Auf Ebene der Geschäftsordnung stand der Bundestag also vor dem Dilemma, entweder an der Tradition festzuhalten, alle Fraktionen nach ihrem Proporz einzubinden und damit auch einige Personen in Leitungsfunktionen zu dulden, die rechtsextreme politische Positionen vertreten, oder von dieser Linie abzurücken und damit aus politischen Gründen eine Fraktion von der gleichen Mitwirkung im Parlament teilweise auszuschließen. Wie sich bereits in der letzten Legislaturperiode abzeichnete, hat der Bundestag sich für die zweite Variante entschieden.

Recht auf gleiche parlamentarische Teilhabe verletzt?

Dies wirft die verfassungsrechtlichen Probleme auf, die das BVerfG in einem Organstreitverfahren wird bewältigen müssen: Alle Abgeordneten wie Fraktionen haben das Recht, gleichermaßen am Prozess der parlamentarischen Willensbildung teilzuhaben. Dieses Recht wurzelt sowohl im Demokratieprinzip nach Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz (GG) wie auch in der Gleichheit der Abgeordneten nach Art. 38 Abs. 1 GG. Zu dieser Teilhabe an der Willensbildung des Parlaments gehören etwa das Rede- und das Stimmrecht, das Recht, parlamentarische Initiativen zu ergreifen oder Frage- und Informationsrechte.

Es stellt sich aber die Frage, ob das Recht auf gleiche parlamentarische Teilhabe auch solche Gremien und Posten erfasst, die lediglich dazu dienen, die Arbeit des Parlaments zu organisieren, so wie dies für Ausschussvorsitzende und die stellvertretenden Bundestagspräsidenten gilt. Bislang wurde dies überwiegend verneint, so auch vom BVerfG (etwa in BVerfGE 140, 115 (150f.), Urt. v. 22. September 2015, 2 BvE 1/11).

Gegen diese Ansicht sprach von jeher, dass die Befugnis, ein Entscheidungsverfahren zu organisieren, auch Einfluss darauf vermittelt, wie die Entscheidung ausfällt. Inzwischen sind offenbar auch in Karlsruhe Zweifel gewachsen. Das Gericht lässt nämlich in der – ablehnend beschiedenen – Eilentscheidung zur Causa Stephan Brandner (2 BvE 1/20, Rn. 29 ff.) ausdrücklich offen, ob es nicht doch konstitutionelle Rechte einer Fraktion verletzen kann, wenn ihr ein Posten verweigert wird, der ihr nach § 12 GO-BT grundsätzlich zusteht. Der Senat nennt als möglicherweise tangierte Rechte den Gedanken der fairen und loyalen Anwendung der Geschäftsordnung, der aus der Gleichheit der Abgeordneten und Fraktionen herrührt, sowie den Grundsatz der effektiven Opposition, der im Demokratieprinzip wurzelt und besagt, dass demokratische Regeln so zu gestalten sind, dass die Minderheit eine realistische Chance haben muss, zur Mehrheit zu werden.

Verfassungsrechtliches Spannungsverhältnis

Bejaht das BVerfG die erste Frage, ob nämlich die Vergabe von Ausschussvorsitzen und Vizepräsidentenposten vom Recht auf gleiche parlamentarische Teilhabe umfasst wird, so stellt sich ein Folgeproblem: Die parlamentarische Teilhabe verkörpert sich hier nach der Geschäftsordnung im Recht aller Fraktionen, nach dem Proporz ihrer Stärke Personalvorschläge zu machen. Besetzt wird die fragliche Stelle anschließend aber durch Wahl, und zwar bei den stellvertretenden Bundestagspräsidenten durch das Plenum, bei den Ausschussvorsitzenden durch den jeweiligen Ausschuss. Bei einer Wahl können sich die Abgeordneten frei entscheiden, worin sie von der Freiheit des Mandats gemäß Art. 38 Abs. 1 GG geschützt werden. Personalvorschläge, die eine Fraktion unterbreitet, können insofern immer wieder an einer fehlenden Mehrheit scheitern. Es entsteht dann eine Pattsituation, in der zwar die Fraktion ihre Kandidaten nicht durchbringen, die Mehrheit im jeweiligen Gremium den Posten aber auch nicht besetzen kann.

Die größere politische Einbuße erleidet dabei jedoch die Fraktion, die nicht zum Zuge kommt. Denn der Vizepräsidentenposten, der ihr eigentlich zustünde, bleibt schlicht unbesetzt. Damit hat die Fraktion keine Stimme im Präsidium des Bundestages und im Ältestenrat eine Stimme weniger als eigentlich vorgesehen, vgl. §§ 5, 6 GO-BT. Auch der Ausschussvorsitz bleibt zwar vakant, die Funktionen des Vorsitzenden werden dann jedoch von dessen Stellvertreter übernommen.

Wie könnte man aber vermeiden, das Recht der Fraktionen zu entwerten, Personalvorschläge zu unterbreiten, und gleichzeitig das Recht der Abgeordneten auf eine freie Wahlentscheidung wahren? Dieses Problem hat primär der Bundestag in Ausübung seiner Geschäftsordnungsautonomie nach Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG zu lösen. Das BVerfG hingegen muss solche Fragen im Rahmen eines Organstreitverfahrens nicht beantworten, in dem lediglich festgestellt wird, ob der Antragsgegner den Antragsteller in seinen verfassungsrechtlichen Rechten verletzt hat. Falls das Gericht aber zu dem Zwischenergebnis gelangt, dass das Recht auf gleiche parlamentarische Teilhabe auch solche Gremien und Posten erfasst, die dazu dienen, die Arbeit des Parlaments zu organisieren, dann wird es kaum eine Entscheidung fällen können, ohne zumindest Hinweise zu geben, wie die dann gegebene verfassungsrechtliche Spannung zwischen dem Teilhaberecht der Fraktionen und der Wahlfreiheit der Abgeordneten aufgelöst werden könnte.

Freie Wahl der Abgeordneten beschränken?

Eine Möglichkeit wäre es, in der Geschäftsordnung die Wahl der Vizepräsidenten und Ausschussvorsitzenden durch ein Benennungsrecht seitens der berechtigten Fraktionen zu ersetzen, so wie dies für die einfachen Mitglieder der Ausschüsse bereits besteht, § 57 Abs. 2 S. 1 GO-BT. Gegen eine solche schlichte Lösung, die die Spannung zwischen Teilhaberecht und Wahlfreiheit auflösen würde, indem die Wahl abgeschafft wird, spricht aber, dass Vizepräsidenten und Ausschussvorsitzende Leitungsfunktionen für das Plenum oder einen Ausschuss ausüben und deshalb das Vertrauen des jeweiligen Gremiums besitzen müssen. Dieses Vertrauen kann sich nur in einer Wahl durch die Mitglieder des Gremiums ausdrücken.

Schon eher denkbar erscheint es etwa, als ultima ratio die freie Wahl auf eine Auswahl aus den Abgeordneten der berechtigten Fraktion zu beschränken. Dies könnte so aussehen, dass die Fraktion eine gewisse Zahl von Personalvorschlägen machen darf. Scheitern sämtliche vorgeschlagenen Kandidaten, so stehen in einem letzten Wahlgang alle Abgeordneten der berechtigten Fraktion zur Wahl. Gewählt ist dann, wer die höchste Zahl an Stimmen erhält. Bei einer solchen Lösung würden zwar sowohl das Wahlrecht der Abgeordneten wie auch das Teilhaberecht der Fraktion erheblich leiden, aber keines der beiden Rechte völlig zurücktreten.

Solche Überlegungen erübrigten sich, wenn das BVerfG bei seiner bisherigen Rechtsprechung bliebe und das Recht der Fraktionen auf gleiche parlamentarische Teilhabe nicht auch auf die Vergabe von Ausschussvorsitzenden und die Wahl der stellvertretenden Bundestagspräsidenten erstreckte. Dies hätte allerdings den Preis, dass die Spannungen in der Handhabung der Geschäftsordnung nicht aufgelöst würden und der Bundestag sich auf absehbare Zeit von seiner Tradition verabschiedete, alle Fraktionen nach dem Proporz ihrer Stärke gleich zu behandeln.

Der Autor Dr. Sebastian Roßner arbeitet als Rechtsanwalt in der Kanzlei LLR Rechtsanwälte in Köln. Einer seiner Schwerpunkte ist das Staats- und Verfassungsrecht.

Zitiervorschlag

Streit um Vorsitz in Bundestagsausschüssen: . In: Legal Tribune Online, 06.01.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47134 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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