Fast vier Jahre lang hat der Bundestag nicht über die Ehe für alle abgestimmt. Nun wollen die Grünen, die bloße Parteipolitik wittern, die Große Koalition dazu zwingen. Aber wird das BVerfG sich gegen die parlamentarische Mehrheit stellen?
Die Grünen wollen eine Bundestagsabstimmung über die Ehe für homosexuelle Paare vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erzwingen. Dazu haben sie eine ungewöhnlichen Antrag eingereicht, der mittlerweile öffentlich verfügbar ist.
Darin beantragt die Bundestagsfraktion der Grünen, den Rechtsausschuss per einstweiliger Anordnung zu verpflichten, die Gesetzentwürfe der Grünen, der Linken und des Bundesrats auf die Tagesordnung zu nehmen und über diese zeitnah Beschluss zu fassen. So soll der Bundestag noch vor der Sommerpause, also vor seiner letzten planmäßigen Sitzung am 30. Juni, über die Eheöffnung für gleichgeschlechtliche Paare abstimmen können. Es dürfte die einzige Möglichkeit sein, das Thema noch auf die Agenda des 18. Deutschen Bundestags zu bringen, bevor im September neu gewählt wird.
Verfassungsrechtlich ist der Antrag gleich in mehrfacher Hinsicht ein Novum. So dürfte es sich um das erste Mal handeln, dass der Rechtsausschuss gerichtlich zu einer Beschlussfassung verpflichtet werden soll. Aber wird das BVerfG, das sich für komplexe Fragen mitunter Monate oder gar Jahre Zeit lässt, nun binnen weniger Wochen und mitten im Wahlkampf entscheiden, ob es sich in den parlamentarischen Alltag einmischt?
Wie viel Macht hat die Mehrheit?
Die Angelegenheit sei in Bearbeitung, teilt der Sprecher in Karlsruhe mit. Ob und wann etwas geschieht, kann er nicht sagen. Die Grünen haben schon in ihrer Antragsschrift vorsichtshalber auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet, das BVerfG muss über ihren Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, der auch ohne zeitgleiche Einleitung eines Organstreitverfahrens zulässig ist, nicht verhandeln. Egal, welche Entscheidung es treffen will.
Rechtsprofessor Joachim Wieland hat zu dem Antrag der Grünen eine recht klare Meinung: "Über die Behandlung von Gesetzentwürfen der Fraktionen entscheidet der Bundestag mit Mehrheit. Wenn die Mehrheit einen Antrag der Oppositionsfraktionen nicht behandeln will, kann sie das mit ihrer Mehrheit durchsetzen", sagte der Verfassungsrechtler von der Universität Speyer gegenüber LTO. "Erst wenn die Mehrheit missbraucht wird, könnte das rechtlich relevant werden". Dafür sehe er bei dem von den Grünen zitierten Zeitablauf von zwei Jahren jedoch keine Anhaltspunkte, so Wieland.
Dr. Sebastian Roßner kann sich hingegen durchaus vorstellen, dass Karlsruhe die Bundesregierung zumindest um eine Stellungnahme bitten wird. Er hält die Vorschrift des Art. 76 Abs. 3 S. 6 Grundgesetz (GG), auf die sich die Grünen berufen, auch für anwendbar auf Gesetzesvorlagen von Fraktionen, obwohl die Norm ihrem Wortlaut nach nur bestimmt, dass der Bundestag über Vorlagen des Bundesrats "in angemessener Frist" beraten und beschließen muss. Zwar sei es grundsätzlich Sache des Parlaments, unter Gesichtspunkten politischer Zweckmäßigkeit selbst zu regeln, wie lang eine in diesem Sinne angemessene Frist sei: "Das Antragsrecht darf aber auch nicht durch Nichtstun vereitelt werden", so der Parteien- und Verfassungsrechtler von der Universität Düsseldorf.
Aus seiner Sicht reicht dafür allerdings nicht schon aus, dass über eine Vorlage bis zum Ende der Legislaturperiode noch nicht entschieden wurde. "Auch über einen langen Zeitraum liegt nicht zwingend ein Vereiteln vor – zum Beispiel dann nicht, wenn es sich um ein sehr komplexes Thema handelt, also weiterer Beratungsbedarf besteht, oder aber der Bundestag extrem überlastet ist mit anderen Vorhaben".
"Rechtsmissbräuchlich im Ausschuss begraben"?
Nach Ansicht der Grünen ist längst alles gesagt. Im Jahr 2013 habe der Bundestag über den – im Wesentlichen inhaltsgleichen – Entwurf der Linken diskutiert, im Jahr 2015 über den Entwurf der Grünen und im November 2016 über den des Bundesrats. Im März 2017 gab es noch einmal eine Aktuelle Stunde im Bundestag zur Ehe für alle. Im Innen- und Menschenrechtsausschuss wurde bereits votiert, auch im von Union und SPD dominierten und nun verklagten Rechtsausschuss gab es eine Anhörung. Nur abgeschlossen wurde die Beratung nie; stattdessen wurde das Thema laut Volker Beck 27 mal von der Tagesordnung genommen.
Fast ihre gesamte Regierungszeit lang hat die Koalition also viel über die Ehe für Homosexuelle gesprochen. Und nichts beschlossen. Der Entwurf der Linken datiert von 2013, die Grünen wollen mit ihrem Hauptantrag auch über diesen und den des Bundesrats abstimmen lassen. Sie stützen sich dabei auf ein in Prozessstandschaft geltend gemachtes Recht des Bundestags, gegenüber allen Initianten von Gesetzentwürfen sicherzustellen, dass über diese auch entschieden wird. Die Koalition hingegen habe sämtliche Vorlagen "rechtsmissbräuchlich im Ausschuss begraben", argumentieren sie unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des BVerfG.
Gegen sachliche Gründe für einen weiteren Aufschub - und damit gegen eine Angemessenheit i.S.v. Art. 76 GG - spricht aus ihrer Sicht auch, was die parlamentarische Geschäftsführerin der SPD gesagt habe: "Die wollten einen Keil in die Koalition treiben. Das hätte das Ende der Koalition bedeutet." Das sei, so Volker Beck, Missbrauch und kein sachgerechter Grund. "Gesichtspunkte der politischen Opportunität können den Anspruch auf Abstimmung über Gesetzentwürfe nicht aushebeln. Andernfalls käme dem Artikel 76 GG überhaupt keine tatsächliche Bedeutung zu, er wäre entleert", so der Grünen-Politiker.
Auch Bedenken insbesondere aus der Union gegen die Verfassungsmäßigkeit der Ehe für alle seien kein Argument, eine Abstimmung zu vermeiden. "Mit dieser Begründung kann der Gesetzentwurf in der Abstimmung jedenfalls abgelehnt werden", heißt es in der Antragsschrift. Sie könne aber nicht herangezogen werden, um schon die Abstimmung zu vermeiden.
Wann entstünde der größere Schaden?
Aber soll das BVerfG darüber tatsächlich in wenigen Wochen entscheiden – und damit faktisch die Entscheidung der Mehrheit im Bundestag aushebeln, sich nicht mit der Frage zu befassen? Früher hätten sie ihren Antrag in Karlsruhe nicht stellen können, argumentieren die Grünen. Bis Ende April habe man, so heißt es in der Antragsschrift, "angesichts vielfältiger Beteuerungen, noch politisch zu verhandeln und eine Einigung anzustreben", berechtigten Anlass zur Hoffnung gehabt, dass das Thema auch so auf die Tagesordnung des Bundestags gelangen würde.
Die Grünen halten ihren Antrag für "offensichtlich begründet". Man muss kein Prophet sein, um zu bezweifeln, dass das BVerfG das in dieser Absolutheit teilen wird. Karlsruhe gilt als zurückhaltend, was den Erlass einstweiliger Anordnungen angeht, der Maßstab des § 32 Bundesverfassungsgerichtsgesetz ist streng. Wenn sie einen Erfolg in der Hauptsache für ebenso möglich halten wie einen Misserfolg, dann nehmen Deutschlands höchste Richter im einstweiligen Rechtsschutz eine Rechtsfolgenabwägung vor: Entstünde bei Erlass einer letztlich falschen oder bei Nicht-Erlass einer letztlich richtigen Anordnung der größere Schaden?
Die Antwort darauf ist schwierig und überschneidet sich in Teilen mit der Frage nach einer Vorwegnahme der Hauptsache. Aus Sicht der Grünen wäre diese ausnahmsweise hinzunehmen: Die Legislaturperiode läuft ab, der 18. Deutsche Bundestag könnte dann nicht mehr über den Entwurf beraten, seine Rechtsposition wäre damit ebenso unwiederbringlich verloren wie das Recht der Fraktion.
Abstimmung in nächster Legislaturperiode ausreichend?
Dieses Argument für die Zulässigkeit ihres Antrags ist eine formale Betrachtungsweise der Grünen. Faktisch bleiben, darauf weist Verfassungsrechtler Roßner hin, trotz des Grundsatzes der Diskontinuität die getätigten Beratungen und das angehäufte Wissen einer Legislaturperiode – nicht nur bei Personenidentität - erhalten. Zwar nicht der 18. Deutsche Bundestag, wohl aber der 19., könnte ab September über die Anträge zur Ehe für alle abstimmen. So ließ sich Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) am vergangenen Wochenende bereits damit zitieren, dass er darauf wette, dass die Ehe für alle in der kommenden Legislaturperiode kommen werde. Auch einen weiteren Koalitionsvertrag ohne diese Zusage könne er sich nicht vorstellen.
Es mag sein, dass die Grünen mit ihrem Antrag am Ende rechtlich keinen Erfolg haben. So könnte die Koalition zum Beispiel nicht völlig unplausible Gründe dafür vorbringen, dass sie bisher nicht über die Ehe für alle abgestimmt hat. Doch wenn das Bundesverfassungsgericht dem Antrag immerhin genug Gewicht beimessen sollte, um eine entsprechende Stellungnahme einzuholen, wäre das politisch ein Signal.. Nicht nur für die Grünen, sondern auch für die Demokratie.
Pia Lorenz, Den Bundestag zur Abstimmung über die Homo-Ehe zwingen?: . In: Legal Tribune Online, 26.05.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23029 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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