Verfolgung von IS-Rückkehrer:innen: Jetzt auch wegen Völ­ker­mordes

von Claudia Kornmeier

22.11.2022

Die Bundesanwaltschaft verfolgt IS-Kämpfer und ihre Frauen nun auch wegen Völkermordes an den Jesiden. Vor zwei Gerichten bereits mit Erfolg. Dabei ist die Argumentation – wieder – nicht ganz einfach.

In Hamburg sagte im Sommer eine Frau vor Gericht aus, die mehrfach als Sklavin weiterverkauft worden war. Insgesamt an 15 Männer. Alle bis auf der erste vergewaltigten sie. Alle schlugen sie. So steht es in der Urteilsbegründung des Oberlandesgerichts (OLG) Hamburg

Die Frau ist Jesidin aus Shingal im Irak, die Männer Mitglieder der Terrormiliz Islamischer Staat (IS). In Hamburg war die Frau Nebenklägerin und Zeugin in einem Strafverfahren gegen eine deutsche IS-Rückkehrerin. Die Angeklagte wurde vom OLG nicht – wie bisher üblich – vor allem wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt, sondern auch wegen Beihilfe zum Völkermord (Urt. v. 27.07.2022, Az. 3 St 2/22)

Das ist ein Novum. Dem vorausgegangen war die erste Verurteilung eines Mannes wegen Völkermordes an den Jesiden durch das OLG Frankfurt am Main (Urt. v. 30.11.2021, Az. 5-3 StE 1/20 – 4 – 1/20). Generalbundesanwalt Peter Frank nannte diese Entscheidung beim Jahrespresseempfang im Sommer "ein internationales Novum": "Denn – soweit ich weiß – ist zum ersten Mal ein Gericht zu dem Schluss gekommen, dass der IS einen Völkermord an den Jesiden begangen hat." 

Wenig öffentliche Aufmerksamkeit

Beide Entscheidungen haben in der Öffentlichkeit nicht besonders viel Aufmerksamkeit bekommen – verglichen mit dem weltweiten Interesse am Prozess gegen zwei ehemalige syrische Geheimdienstmitarbeiter vor dem OLG Koblenz sogar wenig. Dabei geht es nicht um irgendein Delikt. Völkermord ist international als das schwerste Delikt anerkannt – es gilt teilweise sogar als crime of crimes. 

Der Völkerrechtler Christoph Safferling erklärt sich die verhältnismäßig geringe Aufmerksamkeit damit, dass es in Koblenz "um staatliche Verbrechen im Apparat von Assad" gegangen sei – das steche besonders hervor. "Dass der IS eine Terrororganisation ist, das weiß dagegen mittlerweile jeder, das ist weniger spannend." 

Er verstehe es trotzdem nicht. "Das Problem, das wir durch die Ausreisen und Rückkehrer haben, ist enorm", sagt Safferling. "Diese Menschen haben massive Verbrechen begangen und sind jetzt wieder hier. Es ist damit ein Problem der deutschen Gesellschaft, denn diese Personen haben sich hier radikalisiert. Wir müssen uns fragen, wieso das möglich war." 

Prügel, Vergewaltigung, Essensentzug 

Wie diese "massiven Verbrechen" aussahen, lässt sich im Urteil des OLG Hamburg nachlesen: Der Mann der in Hamburg verurteilten Frau vergewaltigte die Nebenklägerin vom ersten Tag an, verprügelte, bis sie sich tagelang nicht mehr bewegen konnte. Nahm sie zu Kampfeinsätzen mit, wo er ihr einen Sprengstoffgürtel umband und ankündigte, den Gürtel zu zünden, falls sie sich Gegnern nähern sollte. 

Auch seine Frau misshandelte die Jesidin mehrfach. Schlug sie mit einer Taschenlampe auf den Kopf, stieß ihren Kopf gegen die Wand, zog sie an den Haaren durchs Zimmer und ließ sie hungern. 

In der Wohnung war die Jesidin eingeschlossen. Sie musste putzen und waschen, für Gäste kochen und diese bewirten, den Sohn der IS-Frau versorgen sowie am muslimischen Gebet teilnehmen. 

Systematische Tötung und Versklavung tausender Jesiden

Aber es geht in dem Urteil nicht nur um das individuelle Schicksal der Nebenklägerin, sondern auch um das kollektive Schicksal der Jesidinnen und Jesiden. Es geht um die "groß angelegte militärische Offensive" der Terrormiliz Anfang August 2014 auf die Jesiden, die in der Sindschar-Region im Irak lebten. 

Es geht um die Flucht hunderttausender Jesiden. Es geht um tausende Jesiden, die in die Gewalt des IS gerieten, sofort getötet oder systematisch versklavt wurden: "Mehrere Tausend Frauen und Mädchen wurden hierzu auf Sklavenmärkten in der Regel an IS-Mitglieder verkauft, die diese als Haushalts- und Sexsklaven missbrauchten. Kinder wurden zwangskonvertiert und zu IS-Kindersoldaten ausgebildet", so die Urteilsbegründung. 

Der Senat ist überzeugt: "Ziel des IS war die Zerstörung bzw. Vernichtung der jesidischen Gemeinschaft." Die Versklavung der Jesiden habe der "medialen Selbstdarstellung des IS und seiner Propaganda" gedient, so das Gericht. In Videos und Magazinbeiträgen habe die Terrormiliz die Sklaverei religiös gerechtfertigt und Anleitungen zum Umgang mit Sklavinnen beschrieben. Sogar Preislisten habe es gegeben, so das OLG.  

Dieser vom IS propagierte Umgang mit den Jesiden war der verurteilen IS-Rückkehrerin nach Auffassung des Gerichts bekannt. Auch sie hielt Jesiden demnach für "minderwertig". Die Auffassung ihres Mannes – Jesiden seien Ungläubige und keine Menschen, sie hätten auf dieser Welt daher nichts zu suchen – teilte sie ausdrücklich. 

Taten gegen Einzelperson oder Volksgruppe? 

Trotz all dem ist ein Schuldspruch wegen Völkermordes nicht einfach. Eine "Völkermordabsicht" gilt als sehr schwierig nachzuweisen. Im Urteil des OLG Hamburg steht dazu recht wenig. Mit Blick auf den Haupttäter – den Mann der verurteilten IS-Frau – heißt es: "Y. Sak. hat vorsätzlich und auch in der Absicht im Sinne eines zielgerichteten Wollens gehandelt, die Gemeinschaft der Jesiden zu zerstören." 

"Ich bin mir nicht sicher, ob die Verurteilung wegen Völkermordes hier verfängt", sagt Rechtswissenschaftler Safferling. "Ob auf Täterseite Ehemann und Ehefrau als Täter und Gehilfin dieses Völkermordes gelten können scheint mir deshalb fraglich, weil sich die Tat nur gegen eine Person der geschützten Gruppe gerichtet hat und die erforderliche Zerstörungsabsicht kaum realistisch ist." Auch wenn die Feststellung für die Opfer, hier die Volksgruppe der Jesiden, sicher wichtig und auch richtig sei. 

Das sei sie in der Tat, bestätigt die Vertreterin der Hamburger Nebenklägerin: "Ein Schuldspruch wegen Völkermordes hat ein ganz anderes Gewicht als die Verurteilung wegen irgendwelcher anderen Taten nach dem Strafgesetzbuch", sagt Sonka Mehner. "Er zeigt, dass sich die Tat gegen eine ganze Gruppierung richtet. Dass das kein Einzelfall ist." 

Aus ihrer Sicht sei es auch "nicht unbedingt so viel einfacher, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit nachzuweisen". Die Beweislage sei insgesamt schwierig. "Wir kämpfen an verschiedenen Fronten und fokussieren uns nicht nur auf den Straftatbestand des Völkermordes", sagt die Anwältin. "Das würde auch zu kurz greifen. Denn es geht immer auch um die jeweilige Person und die Verbrechen, die an ihr persönlich begangen worden sind." 

Mehner und ihre deutsche Kollegin Natalie von Wistinghausen arbeiten mit der Menschenrechtsanwältin Amal Clooney zusammen. Dass die Nebenklägerinnen in Deutschland Gehör finden, sei "ganz wesentlich dem Engagement von Amal und ihrem Netzwerk" zu verdanken, sagt Mehner. 

Noch keine BGH-Entscheidung 

Hätte die Verurteilung wegen Beihilfe zum Völkermord an den Jesiden vor dem Bundesgerichtshof Bestand gehabt? Die Frage wird in diesem Fall unbeantwortet bleiben. Die Revision gegen das Urteil des OLG Hamburg wurde zurückgenommen. 

Für die Nebenklägerinnen sei allerdings weniger relevant, welches Gericht das Urteil spricht, sondern dass ihnen Recht gesprochen wird, sagt Anwältin Mehner. "Dass dem Rechnung getragen wird, was sie erlitten haben und das hat das OLG Hamburg getan." Für sie sei außerdem ein kurzes Verfahren von Interesse, das ihre Mandantinnen nicht über Gebühr belastet. 

In dem Verfahren aus Frankfurt wird Karlsruhe sich dagegen voraussichtlich zu den Anforderungen an eine Verurteilung wegen Völkermordes im Fall der Jesidinnen und Jesiden äußern können. Die Revision ist beim BGH eingegangen (Az. 3 StR 230/22). 

Nächstes "Projekt" der Bundesanwaltschaft?

Die Bundesanwaltschaft hat zudem weitere IS-Frauen wegen Beihilfe zum Völkermord angeklagt, der nächste Fall liegt bereits beim OLG Koblenz. 

In den ersten Verfahren der Bundesanwaltschaft gegen IS-Rückkehrerinnen war es zunächst darum gegangen, die Frauen wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilen zu können. Juristisch war auch die Argumentation dafür nicht ganz einfach, sie ist schließlich aber vom Bundesgerichtshof abgesegnet worden. 

Ist die strafrechtliche Verfolgung des Völkermordes an den Jesid:innen also das "nächste große Projekt" der Bundesanwaltschaft? Anwältin Mehner hält den Eindruck für falsch. "Ich glaube nicht, dass da irgendeine Methode dahintersteht. Es geht um die Auswertung der Lebenssachverhalte. Da ist denknotwendig immer eine Entwicklung drin – auch in den Prozessen selbst. Die Erkenntnisse müssen erst gewonnen werden.” 

So ging es etwa in dem Münchner Prozess gegen die IS-Rückkehrerin Jennifer W. noch nicht um Völkermord – anders als später in Frankfurt im Strafverfahren gegen ihren Mann. 

In Koblenz wird man sich nun an der Entscheidung aus Hamburg orientieren, davon geht der Völkerrechtler Safferling aus. "Die Argumentation des Generalbundesanwalts hat in Hamburg verfangen. Damit ist die Verurteilung in der Welt", sagt er. "Die Botschaft ist klar, du darfst da nicht mitmachen. Das ist schon stark und ist am Ende ja auch richtig." 

Zitiervorschlag

Verfolgung von IS-Rückkehrer:innen: . In: Legal Tribune Online, 22.11.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50240 (abgerufen am: 20.11.2024 )

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