In Städten formieren sich Bürgerwehren, um gegen Kriminalität vorzugehen, die es in dieser Masse gar nicht gibt. Die Teilnehmer bewegen sich in einer Grauzone, sagt Thomas Feltes.
Bereits 2006 hatte der Berliner "Tagesspiegel" die Ängste der Deutschen aufs Korn genommen: Mit "Wir fürchten uns zu Tode" war damals ein Beitrag überschrieben, in dem es um die Angst vor Epidemien ging.
Schon früher war in kriminologischen Studien zur Verbrechensfurcht aufgefallen, dass besonders die deutsche Gemütslage anfällig zu sein scheint für meist undefinierbare Ängste. Mit "German Angst“ wird der kollektive Horror Vacui beschrieben, mit dem die Deutschen auf äußere Veränderungen reagieren und der den europäischen Nachbarn meist unbekannt ist . Dabei fällt diese Angst in Deutschland regional sehr unterschiedlich aus, ohne dass es uns Wissenschaftlern bislang gelungen ist, diese Unterschiede vollständig zu erklären.
Wir wissen, dass die Verbrechensfurcht meist dort größer ist, wo wenig Straftaten begangen werden, und umgekehrt. Pointiert könnte man sagen, dass diejenigen, die die geringste Wahrscheinlichkeit haben, Opfer einer Straftat zu werden, die höchste Angst davor haben. Dabei lässt sich diese Angst auch nicht durch eigene Erfahrungen relativieren. In unserer Befragung von Bochumer Bürgern gaben nur 0,3 Prozent an, im vergangenen Jahr Opfer eines Raubes geworden zu sein; 21,6 Prozent halten es aber für wahrscheinlich, in den kommenden zwölf Monaten Opfer einer solchen Straftat zu werden. Die subjektive Kriminalitätsfurcht und die objektive Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Straftat zu werden, klaffen also weit auseinander.
Gefühl von unsicheren Zeiten
Neuerdings, und "in Zeiten wie diesen" (Silbermond), bricht sie wieder hervor, diese so typisch deutsche Angst vor "der Kriminalität" und vor dem Fremden, und sie wird politisch funktionalisiert. Eine wabernde Angst macht sich breit und wir glauben, in zunehmend unsicheren Zeiten zu leben. Der Soziologe Zygmunt Bauman hat diesen Zustand der Verunsicherung bereits 2006 mit dem Begriff der "liquid fear" umschrieben: In "liquid times" verlieren die Menschen die Zuversicht und das Vertrauen in die Steuerbarkeit ihrer eigenen Zukunft.
Dabei hat das Gefühl, an allen Ecken und Enden würden Straftaten begangen, vor allem mit der medialen Aufbereitung und der politischen Diskussion zu tun. Die regelmäßigen politischen Verkündungen, alles gegen "die Kriminalität" zu tun, beruhigen nicht die Menschen, sondern verunsichern sie. Wer gesellschaftliche Entwicklungen nicht versteht (und teilweise kann man sie auch nicht mehr verstehen) oder sich zunehmend gesellschaftlich abgehängt fühlt (wie viele Bürger im Osten Deutschlands), ist grundlegend verunsichert.
Wir leben in Städten der Angst, wobei es diffuse, auf nichts Konkretes gerichtete Ängste sind. Diese Ängste klammern sich an alles, was ihnen angeboten wird, wider alle Vernunft, wider alle Erfahrung. Gleichzeitig wird das Unsagbare gesagt, das Undenkbare gedacht, beides ohne Widerspruch oder gar Aufschrei in der Gesellschaft. Als Konsequenz entwickelt sich ein Treibsand-Gefühl. Der (moralische) Kompass geht verloren, die Gesellschaft driftet auseinander, Individualismus und Egoismus werden zu alleingültigen Maßstäben. Grundlegende moralische Werte lösen sich auf, die Gesellschaft verliert an Zusammenhalt, Extreme nehmen zu und im Alltag spielt die Frage, warum es wichtig ist, die Demokratie zu schützen, keine Rolle mehr. Die Menschen suchen sich Feindbilder, auf die sie ihre Ängste und Aggressionen abladen können. Gleichzeitig verlieren sie das Vertrauen in Institutionen - und eben auch in die Polizei.
Bürgerwehren für Geborgenheit
Hier bieten Bürgerwehren das Gefühl von Geborgenheit, von Zusammenhalt in einer Gruppe, mit der man nachts durch dunkle Gassen zieht. Man fühlt sich bestätigt, weil andere auch so denken (und handeln). Rationales Denken ist dabei nicht gefragt, es geht um Gefühl, Anerkennung und Zusammengehörigkeit: All das, was unsere moderne, mediale Welt vielen nicht mehr bieten kann.
Wer bei einer solchen Bürgerwehr mitmacht, bewegt sich in einer Grauzone. Zwar ist es nicht verboten, eine Bürgerwehr zu gründen und gemeinsam "auf Streife" zu gehen und natürlich sind auch – angemeldete – Demonstrationen erlaubt. Pfefferspray und andere legale Verteidigungsmittel kann man durchaus mitnehmen.
Allerdings darf man sie nur einsetzen, wenn man angegriffen wird, also zur Selbstverteidigung. Und wenn diese Selbstverteidigung provoziert wird, in dem man z.B. einen angeblichen Verdächtigen einkreist und dieser sich wehrt, dann ist dieses Selbstverteidigungsrecht schnell verwirkt und man macht sich strafbar. Auch wenn man jemanden (z.B. um seine Personalien festzustellen) irrtümlich festhält, kann dies eine Freiheitsberaubung und damit eine Straftat sein. Nach § 127 Strafprozessordnung (StPO) ist es zwar erlaubt, Straftäter, die auf frischer Tat erwischt wurden, festzuhalten, bis die Polizei eintrifft. Aber zum einen kann es sich dabei immer nur um den Verdacht einer Straftat handeln. Ob eine solche wirklich vorliegt, können nur Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht feststellen. Zum anderen darf dabei nur ein mildes Mittel benutzt werden, also keinesfalls körperliche Gewalt, die über ein Festhalten hinausgeht.
Gewaltmonopol liegt bei der Polizei
Es ist Aufgabe der Polizei, für die Abwehr von Gefahren zu sorgen und den Schutz der Öffentlichkeit zu gewährleisten. Nur sie darf dabei auch Gewalt anwenden (Gewaltmonopol). Der (Irr-)Glaube, die Polizei würde nicht genug tun, um Bürger zu schützen, gibt niemandem das Recht, dieses Gewaltmonopol in Frage zu stellen oder gar in die eigene Hand zu nehmen.
Auch lässt sich die Vermutung, dass eine Bürgerwehr das Sicherheitsgefühl verbessert, nicht belegen. Im Gegenteil: Dort, wo solche Gruppen unterwegs sind, wird die Furcht vor Kriminalität nur geschürt, und zwar bei den Teilnehmern, vor allem aber auch bei allen anderen und nicht nur bei "besorgten" Bürgern.
Angst vor Kriminalität zu haben, ist ein Ventil, weil diese Angst im Vergleich zu den anderen Ängsten greifbar und personalisierbar ist. Die Menschen verlagern ihre allgemeinen gesellschaftlichen Ängste in einen konkreten, wie man glaubt, definierbaren Bereich: Die Kriminalität und die "Kriminellen" bieten sich hier an, und dies, obwohl es "die Kriminalität" nicht gibt. Das Risiko, Opfer einer Straftat zu werden, hängt entscheidend von Alter, Geschlecht, Wohnort und sozialer Lage ab.
Angst entsteht im Kopf
Die meisten Täter schwerer Straftaten kommen aus dem näheren sozialen Umfeld. Irrationale Ängste können aber nicht mit rationalen Argumenten bekämpft werden. Wenn Psychologen uns bestätigen, dass die meisten Angstgefühle entstehen, weil wir denken, etwas sei gefährlich, dann sind es unsere Gedanken, die Angstgefühle erzeugen.
Bürgerwehren, Sicherheitswachten oder ähnliches, die wie der Nachtwächter im Mittelalter nachts durch die (meist leeren) Straßen patrouillieren, helfen da eher wenig, im Gegenteil. Sehr schnell wird es den Nachtwächtern der Moderne langweilig, denn Kriminalität ist nach wie vor ein eher seltenes Ereignis, wie auch die als kriminalpolitische Errungenschaft hoch gelobten, wöchentlich aktualisierten Kriminalitätskarten (das sog. "Einbruchsradar") in Nordrhein-Westfalen zeigen.
Bürgerwehren sind oftmals ein Treffpunkt der rechten Szene, also von Menschen, die mit dem demokratischen System unseres Staates nichts mehr anzufangen wissen, sich abgehängt und im Kreis von Gleichgesinnten bestätigt fühlen. Daher sollten sich Politik und Polizei mit den Gründen beschäftigen, die solche Menschen in Bürgerwehren treiben. Es wäre ein Fehler, die Bürgerwehren aggressiv zu bekämpfen, weil dies nur das Gefühl der Teilnehmer verstärken würde, dass der Staat "gegen sie" ist. Der Fokus sollte auf denjenigen liegen, die als Rechtsextremisten solche Bürgerwehren ins Leben rufen. Die Ängste und Befürchtungen der - im wahren Sinn des Wortes - Mitläufer gilt es ernst zu nehmen und zu versuchen, sie in Gesprächen und durch objektive Fakten zur tatsächlichen Sicherheitslage zu überzeugen.
Sorgen nicht zunutze machen
Die bisherigen Erfahrungen haben gezeigt, dass sich Bürgerwehren oder "Sicherheitswachten", wie es sie bereits Ende der 1980er Jahre in Bayern gab, relativ schnell auflösen, weil es langweilig (und im Winter auch unangenehm kalt) wird, wenn man stundenlang durch die Gegend läuft, ohne dass etwas passiert; denn die tatsächliche Chance, einen Straftäter "in Aktion" zu erleben, ist überaus gering.
Wer als Politiker Sicherheitswachten und deren symbolische Funktion unterstützt, stellt sich selbst ein Armutszeugnis aus. Es ist ihm oder ihr nicht gelungen, den Menschen zu verdeutlichen, dass sie in sicheren Zeiten und in der sichersten Gesellschaft leben, die wir jemals hatten – sofern es um Kriminalität geht.
Die anderen gesellschaftlichen Unsicherheiten und Verunsicherungen, welche die Menschen bewegen (Armut im Alter, Renten- und Gesundheitssystem, Finanzkrisen, Globalisierung, Zerfall der politischen Kultur) haben eben diese Politiker zu verantworten. Sie sollten also bei sich selbst anfangen und die hinter der Verbrechensfurcht verborgenen Ängste der Bürger ernst nehmen, anstatt sich wohlfeil die Furcht der Menschen vor gesellschaftlichen Veränderungen zunutze zu machen, die Schuld angeblichen oder tatsächlichen Straftätern (und Flüchtlingen) zuzuschieben und sich durch ständig neue und kriminologisch unsinnige Verschärfungen von Gesetzen zu profilieren.
Der Autor Professor Dr. Thomas Feltes ist Seniorprofessor an der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum und Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft. Neben seiner Tätigkeit in Forschung und Lehre arbeitet Professor Dr. Feltes als (forensischer) Gutachter und Strafverteidiger.
Bürgerwehren gegen die "German Angst": . In: Legal Tribune Online, 02.11.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/38493 (abgerufen am: 04.11.2024 )
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