2/2: Pflicht zur Selbsthilfe - auch gegen den Willen des Betroffenen
Das BSG nimmt die Pflicht zur Inanspruchnahme vorrangiger Sozialleistungen, zu denen auch eine vorgezogene Altersrente gehöre, in ihrer strengen Ausrichtung beim Wort. Die geforderte Selbsthilfe - auch gegen den Willen des Betroffenen - zur Sicherung des Nachrangs der SGB II-Leistungen bleibe die gesetzliche Grundregel. Die eng umrissenen Ausnahmetatbestände seien in der Unbilligkeitsverordnung abschließend geregelt und griffen hier nicht ein. Die Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente durch den Kläger sei auch erforderlich, um seinen Leistungsbezug nach dem SGB II zu beenden, zumal er mit dem Rentenbeginn von diesen Leistungen automatisch ausgeschlossen sei.
Jobcenter muss Ermessen ausüben
Nach § 5 Abs. 3 SGB II stehe zwar ebenso wie die Stellung des Antrags auf eine vorrangige Sozialleistung mit Wirkung für den Betroffenen auch die an ihn gerichtete Aufforderung zur Antragstellung im Ermessen des Jobcenters. Die Ermessensausübung erübrige sich auch nicht etwa deshalb, weil kein Ausnahmefall nach der Unbilligkeitsverordnung vorliege. Bei der Ermessensausübung sei jedoch vom Grundsatz der Verpflichtung des Leistungsberechtigten zur Inanspruchnahme vorrangiger Leistungen auszugehen, weshalb im Regelfall von der Ermächtigung zur Antragstellung Gebrauch zu machen sei. Die Ermessensausübung ermögliche eine abschließende Abwägung im Einzelfall, ob der Nachrang der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II auf diesem Weg durchgesetzt werden solle. Würden dabei atypische Fallgestaltungen und besonderen Härten nicht berücksichtigt, führe dies zu einem Ermessensfehler und damit zur Rechtswidrigkeit der Aufforderung zur Antragstellung. Vorliegend habe der Beklagte jedoch unter Einbeziehung der Argumente des Klägers die wesentlichen Umstände des Einzelfalles hinreichend abgewogen. Vor dem erkennbaren Hintergrund, dass auch eine vorzeitige Altersrente mit Abschlägen den Bedarf des Klägers nach dem SGB II wesentlich übersteigen würde, sei daher ein Ermessensfehler des Beklagten nicht ersichtlich.
Gegen den so verstandenen Regelungsgehalt hat das BSG schließlich auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Dass der Bedürftige zur Selbsthilfe gezwungen werde, bewege sich bei einer rein steuerfinanzierten Transferleistung, die die Anrechnung nur fiktiven Einkommens nicht vorsehe, in den Grenzen des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums, um im Regelfall den Nachrang solcher Leistungen zu gewährleisten.
Die Unbilligkeitsverordnung und das Entschließungsermessen der Jobcenter schützen die Betroffenen also praktisch kaum vor einer Verrentung gegen ihren Willen. Denn die Härten der vorgezogenen Verrentung sind gesetzgeberisch gewollt und in aller Regel nicht atypisch. Welche Bedeutung einer gegebenenfalls gerade durch den Rentenabschlag fortbestehenden Bedürftigkeit des Betroffenen für die Ausübung des Entschließungsermessens der Jobcenter zukommt, wird wohl einer weiteren Klärung anhand entsprechender Fallgestaltungen vorbehalten bleiben.
Der Autor Dr. Kim-Thorben Bülow ist Richter am Sozialgericht Neuruppin und z. Zt. wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Bundessozialgericht.
BSG zu vorzeitiger Altersrente: . In: Legal Tribune Online, 20.08.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16665 (abgerufen am: 05.11.2024 )
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