Der Europäische Gerichtshof soll in Großbritannien nichts mehr zu sagen haben. Diese Forderung der Brexit-Befürworter war recht erfolgreich. Nun sollen Schiedsgerichte über Brexit-Streitfälle urteilen, erläutert Christian Rath.
Vor fast fünf Jahren, im Juni 2016, votierte die britische Bevölkerung mit knapper Mehrheit dafür, die EU zu verlassen. Nach jeweils langem Ringen haben die EU und Großbritannien inzwischen zwei Verträge geschlossen, die die gemeinsame getrennte Zukunft im Post-Brexit-Europa regeln.
Der Austrittsvertrag (Withdrawel Agreement, WA) trat im Februar 2020 in Kraft, seitdem ist Großbritannien nicht mehr Mitglied der EU. Der an Weihnachten zu Ende verhandelte Handels- und Kooperationsvertrag (Trade- and Cooperation Agreement, TCA) ist seit Jahresbeginn 2021 vorläufig in Kraft, es fehlt noch die Ratifikation durch das Europäische Parlament. Beide Verträge enthalten Regelungen zur Streitschlichtung, die sich zwar ähneln, aber klar unterschieden werden müssen.
Die EU-Kommission vertrat in den Verhandlungen lange den Standpunkt, dass Konflikte bei der Anwendung der Abkommen vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) zu entscheiden seien. Für Großbritannien war dies aber völlig inakzeptabel. Zum einen waren die beiden britischen Richter Christopher Vajda (EuGH) und Ian Forrester (EuG) im Zuge des Brexit ausgeschieden.
Vor allem aber war es eine Hauptforderung der Brexit-Befürworter, dass der EuGH ("fremde Richter") in Großbritannien nichts mehr zu sagen haben sollte. Als der TCA ausverhandelt war, erklärte Premier Boris Johnson am 24. Dezember triumphierend: "British laws will be made solely by the British Parliament. Interpreted by UK judges sitting in UK courts. And the jurisdiction of the European Court of Justice will come to an end."
Jetzt mit Schiedsgerichten
Stattdessen sehen beide Verträge nun Verfahren der Streitschlichtung vor, bei denen Schiedsgerichte eine entscheidende Rolle einnehmen. Hiergegen hat es bisher soweit ersichtlich noch keine lauten Proteste gegeben, obwohl Schiedsgerichtsverfahren in Handelsverträgen sonst sehr umstritten sind. Gegen die geplanten Handels-Abkommen der EU mit den USA (TTIP) und Kanada (CETA) demonstrierten 2015 allein in Berlin rund 150.000 Menschen.
Gegen solche Schiedsgerichte wird vor allem eingewandt, dass hier Investoren eine Paralleljustiz nutzen können, die jedenfalls dann unnötig sei, wenn die Handesverträge zwischen funktionierenden Rechtsstaaten geschlossen werden. Außerdem sei die Struktur der Schiedsgerichte tendenziell investorenfreundlich, weil die Schiedsrichter aus der kleinen Gruppe internationaler Dispute-Settlement-Experten ausgewählt werden, die häufig auch mal Parteien vertreten und deshalb, so der Vorwurf, ein Interesse an einem klage-freundlichen Klima haben.
Um diesen Vorwürfen gegen Schiedsgerichte etwas den Wind aus den Segeln zu nehmen, wurde das CETA-Abkommen mit Kanada 2016 nachverhandelt. Statt klassischer ad hoc-Schiedsgerichte ist dort jetzt ein fester Investitionsgerichtshof aus 15 Richtern vorgesehen (Art. 8.27 CETA). Diese Richter sollen eine Grundvergütung oder ein Gehalt bekommen und nicht mehr als Rechtsberater für Streitparteien tätig sein. Neu ist auch eine Berufungsinstanz. Mittelfristig soll der bilaterale CETA-Court zu einem multilateralen Investitionsgerichtshof weiterentwickelt werden.
Hinter diesem neuen Standard bleiben die Schiedsgerichte der beiden Brexit-Abkommen zurück. Zwar können die Richter nur aus einer relativ kleinen Liste von Schiedsrichtern ausgewählt werden. Diese erhalten aber keine feste Vergütung und dürfen auch weiterhin als Rechtsberater für Staaten tätig werden. Auch eine Berufungsinstanz ist jeweils nicht vorgesehen.
Streitschlichtung beim Austrittsvertrag
Der Austrittsvertrag regelt zunächst, dass bei bereits begonnen Verfahren die Dinge in der Regel nach EU-Recht zu Ende gebracht werden. Außerdem enthält er Regeln für die Übergangszeit, die letztlich von Februar 2020 bis Jahresende 2020 währte. In dieser Zeit wurde Großbritannien weiter wie ein EU-Mitgliedsstaat behandelt, konnte aber nicht mehr wie ein Mitgliedstaat mitwirken.
Vor allem aber regelt der Austrittsvertrag, welche Bürgerrechte EU-Bürger bzw. britische Bürger im jeweils anderen Rechtsraum nunmehr haben. So behalten EU-Bürger, die sich bis Ende 2020 in Großbritannien niedergelassen haben, ihren Status. Streitigkeiten, die eine Streitschlichtung erfordern, dürften sich wohl vor allem auf solche Statusrechte von Bürgern im jeweils anderen Rechtsgebiet beziehen.
Zunächst allerdings können EU-Bürger und EU-Unternehmen ihre Rechte aus dem Austrittsabkommen direkt vor britischen Gerichten einklagen, Artikel 4 WA. Auch britische Gerichte sind an dieses Abkommen gebunden. Wenn die EU jedoch der Meinung ist, dass das Austrittsabkommen verletzt wird und Konsultationen keine Abhilfe bringen, kann sie ein Streitschlichtungsverfahren gemäß Artikel 170 ff WA vor einem Schiedspanel einleiten. EU-Bürger und EU-Unternehmen haben allerdings keinen Anspruch, dass die EU-Kommission auf diese Weise zu ihren Gunsten interveniert. Gleiches gilt umgekehrt natürlich jeweils auch für britische Bürger und Unternehmen, die sich im EU-Gebiet aufhalten.
Ein derartiges Schiedspanel besteht aus jeweils fünf Richtern, die aus einem festen Kreis von 25 Richtern ausgelost werden. Diese 25 Richter wurden von EU und Großbritannien Ende 2020 ernannt (Amtsblatt L 443/20). Unter den 5 Personen, die Vorsitzende eines Schiedspanels werden können, ist auch Angelika Nußberger, die bis Ende 2019 Vizepräsidentin des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte war und nun wieder als Rechtsprofessorin in Köln lehrt. Ein zweiter Deutscher findet sich in der Liste der 20 möglichen ordentlichen Panel-Mitglieder, der Passauer Rechtsprofessor Christoph Herrmann.
Ein Schiedspanel soll in der Regel binnen 12 Monaten entscheiden. An den Schiedsspruch sind EU und Großbritannien gebunden. Wenn es Zweifel an der korrekten Umsetzung gibt, kann das Schiedspanel erneut um Entscheidung gebeten werden. Bei Bedarf kann es Pauschalbeträge und Zwangsgelder gegen die säumige Seite verhängen. Werden diese Sanktionszahlungen verweigert, kann die andere Seite ihre Verpflichtungen aus dem Austrittsvertrag teilweise aussetzen (außer Verpflichtungen zugunsten von Bürgern).
In diesem Verfahren kann sogar der EuGH noch eine Rolle spielen. Wenn es um die Auslegung von EU-Recht geht, muss das Schiedspanel das Verfahren gem. Artikel 174 dem EuGH vorlegen.
Streitschlichtung beim Handels- und Kooperationsvertrag
Ähnlich, aber doch völlig eigenständig läuft die Streitschlichtung beim jüngst geschlossenen Handels- und Kooperationsvertrag. Der Vertrag mit seinen 1390 Seiten erfasst viele (aber längst nicht alle) Materien der künftigen wirtschaftlichen und rechtlichen Zusammenarbeit von EU und Großbritannien: Warenverkehr, Dienstleistungen, Energie, Luftfahrt, Straßentransport, Soziale Sicherheit, Fischerei und Strafverfolgung.
Hier nimmt die Streitbeilegung als Teil 6 des Abkommens eine herausgehobene Stellung ein. Diese "horizontalen" Bestimmungen sind in vielen Bereichen anwendbar, in manchen aber auch nicht. So nimmt Artikel INST.10 TCA zahlreiche Vertragsmaterien von der Streitschlichtung ausdrücklich aus, etwa das meist hochumstrittene "Recht auf Regulierung", das den Investorenschutz begrenzt. Anwendbar ist die Streitschlichtung aber zum Beispiel in den konfliktträchtigen Bereichen der Beihilfekontrolle und der öffentlichen Beschaffung.
Im TCA gibt es keine Schiedspanel, sondern Schiedsgerichte. Diese sind auch nicht fünfköpfig, sondern mit drei Personen besetzt. Die Schiedsrichter werden aus einer 15-köpfigen Liste ausgewählt, die noch nicht vorliegt, aber gem. Artikel INST.27 im ersten halben Jahr nach Inkrafttreten des Abkommens beschlossen sein soll. Vorsitzende der Schiedsgerichte sollen nur Personen werden können, die weder Briten noch EU-Bürger sind.
Auch die Vorschriften des Handels- und Kooperationsabkommens können zunächst vor den nationalen Gerichten Großbritanniens (oder der EU-Staaten) geltend gemacht werden. Wenn strukturelle Mängel wahrgenommen werden, kann die britische oder die EU-Seite wiederum eskalieren und Konsultationen bzw. ein Schiedsverfahren auslösen. Auch hier können Bürger- und Unternehmen ein Schiedsverfahren weder selbst einleiten noch erzwingen.
Die Schiedssprüche sind auch hier für beide Seiten verbindlich und müssen binnen einer ad-hoc-Frist umgesetzt werden. Falls umstritten ist, ob der Schiedsspruch korrekt umgesetzt ist, wird erneut das Schiedsgericht gefragt. Wenn die korrekte Umsetzung unterbleibt, kann die benachteiligte Seite als Ausgleich ihre Verpflichtungen aus dem Abkommen gemäß Artikel INST.24 TCA in angemessener Weise aussetzen.
Dabei muss die Sanktion in der Regel nicht im gleichen Politikfeld gesucht werden. So könnten zum Beispiel Zölle auf Waren erhoben werden, wenn die Gegenseite Vorschriften aus dem Fischerei-Teil verletzt. Falls streitig bleibt, ob die Ausgleichsmaßnahme verhältnismäßig ist, muss wieder das Schiedsgericht entscheiden. Die Maßnahmen müssen beendet werden, wenn der ursprüngliche Konflikt beigelegt wurde.
Der Europäische Gerichtshof hat bei der Streitschlichtung nach dem Handels- und Kooperationsabkommen keine Rolle mehr und kann von den Schiedsgerichten nicht einmal zur Auslegung von EU-Recht angerufen werden.
In den zahlreichen Fällen, bei denen Konflikte nicht mit Hilfe von Schiedsgerichten geklärt werden dürfen, etwa wenn es um das "Recht auf Regulierung" geht, müssen EU und Großbritannien den Streit im Wege von Konsultationen ausräumen. Es muss also solange verhandelt werden, bis ein Kompromiss oder sonst ein Konsens gefunden wurde. Für die EU verhandelt dabei die EU-Kommission. Als Forum für solche Konsultationen kann gem. Artikel INST.10 Abs. 3 TCA zum Beispiel der paritätisch besetzte GB-EU-Partnerschaftsrat genutzt werden. Strafzölle und andere Sanktionen dürfen hier nicht eingesetzt werden - auch nicht um Konsultationen etwas dynamischer zu gestalten.
Streitschlichtung in Brexit-Fällen: . In: Legal Tribune Online, 15.01.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43997 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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