Im Werksvertragsrecht gibt es keine fiktiven Schadenskosten mehr. Das bahnbrechende Urteil des BGH hat Auswirkungen auf die Baubranche, Architekten und Ingenieure. Es verhindert Überkompensation. Das wurde auch Zeit, meint Ralph Bodo Kaiser.
Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit verändert ein kürzlich vom Bundesgerichtshof (BGH) veröffentlichtes Urteil die Baubranche. Der u. a. für das Baurecht zuständige VII. Zivilsenat hat seine bisherige Rechtsprechung aufgegeben und entschieden, dass es in Zukunft im Baurecht keine fiktive Schadensbemessung von Mängelbeseitigungskosten mehr gibt (BGH, Urt. v. 22.02.2018, Az. VII ZR 46/17).
Das Berufungsgericht hatte einen Bauunternehmer, der Natursteinarbeiten ausgeführt, und einen Architekten, der diese überwacht hatte, gesamtschuldnerisch zur Zahlung aufgrund von Mängeln verurteilt. Das Urteil basierte auf einer fiktiven Schadensberechnung; das Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf (Urt. v. 19.01.2017, Az. 5 U 30/15) stützte sich auf die ständige Rechtsprechung des BGH.
Der aber gab seine Linie nun überraschend auf - jedenfalls insoweit, als Werkverträge betroffen sind, die ab dem 1. Januar 2002 geschlossen wurden. Das bedeutet auch, dass nun Vorschussklagen gegen Architekten möglich werden.
Mangel ist nicht gleich Schaden
Nach der bislang praktizierten Karlsruher Rechtsprechung war die Bauherrin (auch) berechtigt, ihren Schaden auf Basis der fiktiven Mängelbeseitigungskosten zu bemessen. Sie könne, so der BGH, abweichend von § 249 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) verlangen, dass der Schaden mit dem für die Mangelbeseitigung erforderlichen Geldbetrag abgegolten werde. Ob sie den zur Verfügung gestellten Betrag tatsächlich zur Mängelbeseitigung verwendet oder nicht, sei unerheblich (so z. B. BGH-Urteile vom 24. 5. 1973, Az. VII ZR 92/71 und vom 28. 6. 2007, Az. VII ZR 81/06)
Diese Rechtsprechung gehört der Vergangenheit an. Pragmatisch führt der Senat in seinem aktuellen Urteil aus, dass ein Besteller, der keine Aufwendungen zur Mängelbeseitigung tätigt, sondern diese nur fiktiv ermittelt, auch keinen Vermögensschaden in Form und Höhe dieser (nur fiktiven) Aufwendungen hat. Erst wenn er den Mangel beseitigen lässt und die Kosten dafür begleicht, entsteht ihm ein Vermögensschaden.
Eine fiktive Schadensberechnung kann nach der geänderten Rechtsauffassung des BGH nicht mehr damit begründet werden, dass der Mangel selbst der Vermögensschaden in Höhe der fiktiven Beseitigungskosten sei. Ein Mangel sei vielmehr, so die Bundesrichter, zunächst einmal nur ein Leistungsdefizit, weil das Werk hinter der geschuldeten Leistung zurückbleibt. Mit einer Schadensbemessung nach fiktiven Maßstäben würde dieses Defizit– vor allem im Baurecht - bei wertender Betrachtung aber nicht zutreffend abgebildet. Vielmehr führe eine fiktive Schadensberechnung häufig zu einer Überkompensation und damit nach einer nach allgemeinen schadensrechtlichen Grundsätzen nicht gerechtfertigten Bereicherung des Bestellers.
Die Dispositionsfreiheit bleibt
Auch der Grundsatz der Dispositionsfreiheit, der es dem Besteller überlässt, ob er den Mangel selbst oder überhaupt noch beseitigen möchte, mache die fiktive Schadensberechnung nicht zwingend notwendig. Schließlich könne er nach wie vor zwischen mehreren Varianten wählen.
Der Besteller, der den Mangel nicht beseitigt, kann seinen Vermögensschaden nach den allgemeinen schadensrechtlichen Grundsätzen im Wege einer Vermögensbilanz darlegen, also die Differenz zwischen dem hypothetischen Wert der durch das Werk geschaffenen Sache ohne Mangel und ihrem Wert mit Mangel ermitteln. Hat der Besteller die Sache ohne Beseitigung des Mangels veräußert, wie in dem vom BGH entschiedenen Fall geschehen, indiziert der erzielte Kaufpreis ihren hypothetischen Wert mit Mangel.
Alternativ könnte ein Besteller, so der Senat, den Schaden auch anhand des vereinbarten Werklohns ermitteln. Maßstab soll dann die durch den Mangel des Werks erfolgte Störung des Äquivalenzverhältnisses sein. Die nicht mangelfrei erbrachte Gegenleistung entspricht laut dem Senat dem beim Besteller eingetretenen Vermögensschaden.
Natürlich kann der Besteller den Schaden auch beheben lassen und die erforderlichen Aufwendungen als Schadensersatz geltend machen. Will er das nicht vorfinanzieren, kann er auf Zahlung eines Vorschusses klagen. Die Sanierung muss dann aber auch durchgeführt werden – falls nicht, muss er die Beträge zurückzahlen. Eine solche Vorschussklage soll nach der Grundsatzentscheidung aus Karlsruhe jetzt auch gegen Architekten möglich sein.
Das Ende der Teilfinanzierung über den Schadensfall
Das Urteil des BGH steht im Gegensatz zu seiner sonst eher bauherrenfreundlichen Rechtsprechung im Bau- und Architektenrecht. Die Möglichkeit einer fiktiven Schadensberechnung verschafft dem Bauherren indessen oft eine Rechtsposition, die zu einer Überkompensation führen kann, so der BGH.
Da nicht alle Baumängel zwingend saniert werden müssen, ist das nicht von der Hand zu weisen. So hat beispielsweise das OLG Jena einem Bauherren rund 155.000 Euro nebst Zinsen zugesprochen, in dessen Keller eine mangelhafte Bodenplatte verbaut wurde. Das entsprach den (fiktiven) Kosten einer verhältnismäßigen, geeigneten und hinreichenden Sanierung (OLG Jena, Urt. v. 30.06.2016, Az. 1 U 66/16). Dass der Bauherr die Platte hat neu herstellen lassen, ist eher unwahrscheinlich. Möglicherweise hat er gar nichts getan oder einen viel kostengünstigeren Weg gefunden, Folgeschäden zu verhindern.
Da Bauprozesse sich in Deutschland bekanntlich lange hinziehen, wird mit Blick auf die ständig tickende Zinsuhr schnell klar, warum eine fiktive Abrechnung für den Bauherrn bisher oft sinnvoll war. Die Überkompensation machte häufig gar eine Teilfinanzierung von Bauvorhaben über den Schadensfall möglich.
Auch die gern praktizierte Vorgehensweise von Bauträgern, wegen kleinerer, oft optischer Mängel den Werklohn des beauftragten Unternehmers zu kürzen, obwohl der Kaufpreis voll vereinnahmt wurde, dürfte mit der neuen Rechtsprechung des BGH zumindest theoretisch der Vergangenheit angehören.
Vergleiche werden wahrscheinlich, die Chancen für Bauherren nicht besser
Die praktischen Auswirkungen der Grundsatzentscheidung sind also enorm. Das Urteil des BGH gilt für alle Bauverträge, Architekten- und Ingenieurverträge und Bauträgerverträge, soweit diese als Werkvertrag einzustufen sind.
Bereits laufende Verfahren müssen neu bewertet, gegebenenfalls Klagen auf Zahlung fiktiven Schadensersatzes nun auf Vorschussklagen umgestellt werden.
Haftungsszenarien in bereits laufenden Verfahren verschieben sich. Bauherren müssen sich grundsätzlich überlegen, ob sie den Mangel beseitigen lassen oder die Differenzhypothese zur Schadensbemessung heranziehen, möglicherweise mit Schwierigkeiten beim Nachweis des hypothetischen Marktwertes. Bei noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren ist neu zu überlegen, ob man doch noch Rechtsmittel einlegt.
Für Bauherren, die nicht zwingend sanieren müssen, kann ein Vergleich jetzt die einzige Möglichkeit sein, einen finanziellen Zugewinn ähnlich dem bei einer fiktiven Schadensabrechnung zu erzielen. Architekten und Ingenieuren sowie ihren Haftpflichtversicherern dürfte die neue Konstellation bei den Vergleichsverhandlungen vermutlich eine etwas bessere Position einräumen.
Ob das Urteil Auswirkungen auch auf andere Rechtsbereiche hat, bleibt abzuwarten. Der BGH sah keine Veranlassung, beim V. und VIII. Senat anzufragen, ob sie an ihrer Rechtsprechung zum fiktiven Schadensersatz im Kaufvertragsrecht oder Deliktsrecht festhalten, um die Sache dem Großen Senat vorzulegen. Die hier dargestellten Grundsätze beruhen vielmehr auf den Besonderheiten des Werkvertragsrechts, so der VII. Senat.
Der deutsche Autofahrer kann also nach wie vor seinen KfZ-Schaden auf "Gutachterbasis" abrechnen. Zumindest bis auf weiteres.
Der Autor ist als Rechtsanwalt bei einem internationalen Versicherer tätig. Schwerpunkt seiner Tätigkeit ist das Bau- und Architekten-Haftungsrecht.
Überraschende Kehrtwende: . In: Legal Tribune Online, 16.03.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/27581 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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