Wer stets ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern gehabt hat, wird diesen im Alter meist freiwillig beistehen. Waren die Familienbande jedoch krisenhaft und ist der Kontakt seit Jahrzehnten erloschen, so sehen die Kinder oft nicht ein, warum sie die ihnen fremd gewordenen Erzeuger plötzlich alimentieren sollen. Und doch müssen sie, wie der BGH am Mittwoch entschieden hat. Herbert Grziwotz stellt das Urteil vor.
9.022,75 Euro sollte der damals 56-jährige Antragsgegner 2009 an die Sozialhilfebehörde zahlen. Sein Vater war im April 2008 aus gesundheitlichen Gründen in einem Heim in Bremen untergebracht worden. Dessen Altersrente, die laufenden Leistungen aus der Grundsicherung und das Pflegegeld aus der Pflegeversicherung deckten die anfallenden Kosten jedoch nicht.
Der Sohn wehrte sich gegen die Inanspruchnahme. Sein Vater habe sich 1971 von seiner Mutter scheiden lassen. Der anfangs noch lose Kontakt sei 1972 nach seinem Abitur vollends abgebrochen. In einem 1998 errichteten Testament, in dem der Vater seine Lebensgefährtin zur Alleinerbin einsetzte, verfügte er, dass der Sohn nur den "strengsten Pflichtteil" erhalten solle. Die Schwiegertochter habe er nicht kennenlernen wollen. Auch bei der Beerdigung des Großvaters im Jahre 1976 habe der Vater nicht mit ihm gesprochen. Kurzum: Über Jahrzehnte hinweg sei der Vater praktisch ein Fremder gewesen, zu dem es keinerlei Beziehung mehr gab, und der ihm nicht mehr vermachen wollte, als zwingend nötig.
Dass der Sohn unter diesen Umständen nicht einsah, nun plötzlich für die Heimunterbringung seines Vaters zahlen zu müssen, fand das Oberlandesgericht (OLG) Oldenburg noch nachvollziehbar. Der Anspruch sei verwirkt (Beschl. v. 25.10.2012, Az. 14 UF 80/12).
Kontaktabbruch befreit oft nicht von Unterhaltspflicht
Doch dabei blieb es nicht; der Bundesgerichtshof (BGH) entschied am Mittwoch vielmehr in eine andere Richtung.
Ausgangspunkt für den Elternunterhalt bildet § 1601 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), wonach Verwandte in gerader Linie verpflichtet sind, einander Unterhalt zu gewähren. Sofern die Eltern ihre Pflege- und Heimkosten, aber auch die Kosten für Verpflegung, Kleidung und etwaigen Mehrbedarf an Medikamenten nicht selbst tragen können, müssen die Kinder einspringen. Zwar regelt das Gesetz Ausnahmen von dieser Pflicht – die Grenze zur groben Unbilligkeit (§ 1611 BGB) sah der BGH jedoch nicht als erreicht an.
Tatsächlich sind die Voraussetzungen hierfür ziemlich streng, was sich vielleicht am besten anhand einer Liste von Dingen erhellen lässt, die für eine Befreiung von der Unterhaltspflicht gerade nicht ausreichen. Darunter fallen zunächst Taktlosigkeiten, Kränkungen und Beleidigungen. Doch auch der – womöglich jahrzehntelange – Kontaktabbruch befreit nur in Ausnahmefällen. Dies schon deshalb, weil er in der Regel auf wechselseitigem Verhalten beruht, so dass es an der für eine schwere Verfehlung i.S.d. § 1611 BGB erforderlichen Einseitigkeit fehlt (siehe für den Kontaktabbruch durch unterhaltsberechtigte Kinder BGH, Urt. v. 29.06.2011, Az. XII ZR 127/09; BGH, Urt. v. 25.01.1995, Az. XII ZR 240/93).
Im Fall, der dem BGH nun vorlag, kam ein weiterer Gesichtspunkt zum Tragen: Die Eltern hatten sich etwa zur Volljährigkeit des Sohnes getrennt, der Kontakt war bald darauf verebbt. In den 18 ersten und für die Entwicklung des Kindes besonders prägenden Lebensjahren habe der Vater seinen elterlichen Pflichten hingegen "im Wesentlichen" genügt, fanden die Richter.
2/2: Eltern und Kinder grundsätzlich ein Leben lang zusammengeschweißt
Diese strenge Linie gründet auf der Annahme eines prinzipiell lebenslangen Solidaritätsverhältnisses zwischen Eltern und Kindern, welches für beide Seiten eine besondere Verantwortung mit sich bringt und sie in einer Art Risikogemeinschaft zusammenschweißt. Lediglich tätliche Angriffe, ständige grobe Beleidigungen und Bedrohungen, vorsätzliche Kränkungen, falsche Anschuldigungen und das Verschweigen von eigenen Einkünften können einen Ausschluss des Unterhaltsanspruchs wegen schwerer Verfehlungen rechtfertigen (Az. XII ZB 607/12).
Gleiches gilt, wenn Eltern ihr Kind im Kleinkindalter bei den Großeltern zurückgelassen und sich in der Folgezeit nicht mehr um dieses gekümmert haben (BGH, Urt. v. 19.05.2004, Az. XII ZR 304/02). Allerdings muss das Verhalten vorsätzlich sein. Es scheidet aus, wenn es krankheitsbedingt ist (BGH, Urt. v. 15.09.2010, Az. XII ZR 148/09).
Eine weitere Ausnahme regelt zudem das Sozialhilferecht, namentlich § 94 Sozialgesetzbuch (SGB) XII. Danach findet der eigentlich in § 94 Abs. 1 Satz 1 SGB XII vorgesehene Forderungsübergang auf die Sozialämter nicht statt, wenn ein Fall der unbilligen Härte vorliegt. Ein solcher ist etwa dann gegeben, wenn die Heranziehung in Anbetracht der sozialen und wirtschaftlichen Lage des Unterhaltspflichtigen für ihn und seine übrigen Familienmitglieder zu einer nachhaltigen und unzumutbaren Beeinträchtigung führen würde.
Schließlich gilt eine Heranziehung auch dann als unbillig, wenn der Unterhaltspflichtige den Sozialhilfeempfänger bereits vor Eintritt der Sozialhilfe über das Maß einer zumutbaren Unterhaltsverpflichtung hinaus betreut oder gepflegt hat. Der Normalfall ist das alles jedoch nicht. Wenn der Verpflichtete lediglich seinen Lebensstil stark einschränken muss, um für die Pflegekosten der Eltern aufzukommen, so befreit ihn das von seiner Zahlungspflicht keineswegs.
Auch Vermögensstamm muss angegriffen werden
Im Regelfall ist eine Zahlungspflicht des Kindes also zu bejahen. In einem zweiten Schritt stellt sich dann die Frage nach deren Ausmaß, das von der Leistungsfähigkeit des Kindes abhängt. Maßgebend ist dafür zunächst sein Einkommen. Bei einem Kind, das in einem Eigenheim wohnt, muss zum Einkommen noch die ersparte Miete hinzugerechnet werden. Abgezogen werden vor allem vorrangige Unterhaltspflichten, zum Beispiel gegenüber Ehegatten, eingetragenen Lebenspartnern und Kindern. Auch Aufwendungen, die für Besuche der Eltern entstehen, mindern das einzusetzende Einkommen.
Unterhaltspflichtige müssen grundsätzlich auch den Stamm ihres Vermögens zur Bestreitung des Unterhalts einsetzen; ausgenommen ist solches Vermögen, dessen der Unterhaltspflichtige zur Erzielung von Einkünften bedarf, zum Beispiel Betriebsvermögen. Auch Leistungen für die eigene, angemessene Altersversorgung sind mit Blick darauf zu berücksichtigen, dass die primäre Altersvorsorge in Form der Rente in Zukunft nicht mehr ausreichen wird.
Hierzu erkennt die Rechtsprechung bisher eine Höhe von fünf Prozent des Jahresbruttoeinkommens des Unterhaltspflichtigen als abzugsfähig an. Ein Notgroschen in Anlehnung an das Schonvermögen, von dessen Verwertung die Gewährung von staatlichen Leistungen nach § 98 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII nicht abhängig gemacht wird, ist ebenfalls anzuerkennen. Nach einem Beschluss des BGH vom 7. August 2013 (Az. XII ZB 269/12) bleibt selbstgenutztes Immobilieneigentum im Rahmen der Vermögensbewertung grundsätzlich unberücksichtigt, jedoch nicht insgesamt. Es ist in das einsatzpflichtige Vermögen einzubeziehen, wenn der Wert oberhalb des den jeweiligen Verhältnissen des Unterhaltsschuldners angemessenen Wertes liegt.
Die Verpflichtung zur Leistung von Elternunterhalt spielte lange Jahre keine Rolle; noch 1992 schlug der damals 59. Deutsche Juristentag eine Abschaffung des Instituts vor. Das dürfte heute angesichts leerer öffentlicher Kassen keine Option mehr sein. Im Gegenteil nimmt die Bedeutung des Elternunterhalts durch die demographische Entwicklung und das Sinken der Renteneinkommen immer weiter zu. Allerdings bleibt die Frage, wieso es die Politik in Deutschland nicht fertig bringt, auch für den Normalverdiener bezahlbare Pflegeheimplätze zu schaffen.
Der Autor Prof. Dr. Dr. Herbert Grziwotz ist Notar in Regen und Zwiesel und Verfasser zahlreicher Veröffentlichungen zum Familienrecht.
Herbert Grziwotz, Keine Verwirkung von Elternunterhalt: Auch der verstoßene Sohn muss zahlen . In: Legal Tribune Online, 12.02.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/10975/ (abgerufen am: 21.07.2024 )
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