2/2: Es gibt nur gesetzlich bestimmt oder nicht bestimmt
Ebenso wie eine Straftat nur entweder ganz oder gar nicht begangen werden kann, ist auch ihre Strafbarkeit nur entweder ganz oder gar nicht bestimmt i.S. des Art. 103 Abs. 2 GG. Durch die bloße Addition zweier nicht nur unvollständig, sondern überhaupt nicht erfüllter gesetzlicher Sanktionsanordnungen kann nun aber ebenfalls keine gesetzliche Strafbarkeitsanordnung entstehen. Daran ändert die Sicherheit, dass jedenfalls eine der beiden Sanktionsnormen gesetzesalternativ erfüllt ist, nicht das Geringste.
Unter dem Blickwinkel des Gesetzlichkeitsgrundsatzes spielt es keine Rolle, ob der Angeklagte entweder ein Wilderer oder alternativ Täter eines versuchten Mordes am Förster ist oder entweder ein Betrüger oder alternativ ein Dieb.
Der Angeklagte, der im Revier eines anderen Jagdausübungsberechtigten mit ungeklärtem Ziel geschossen hat, muss nach fast einhelliger Meinung in dieser Konstellation freigesprochen werden – und das, obwohl feststeht, dass er eine Straftat begangen hat und auch sonst seine Verurteilung als im obigen Sinne „verdient“ erscheinen würde. Und dennoch ist er nicht zu bestrafen, weil es dafür keine gesetzliche Grundlage gibt.
Der Große Senat kann den Rechtsstaat zur Geltung bringen
Es ist nichts anderes, wenn die alternativ begangenen Straftaten nicht ganz so weit auseinanderliegen wie die Wilderei und der Mordversuch, sondern irgendwie „rechtsethisch und psychologisch vergleichbar“ sind. Auch dann ist der mit dem entsprechenden Schuldspruch erhobene Vorwurf unberechtigt. Was erwiesenermaßen begangen worden ist, erfüllt per definitionem keinen Straftatbestand des geltenden Rechts.
Es bleibt dabei: Gesetzesalternative Verurteilungen – etwa der Schuldspruch und die Bestrafung wegen Diebstahls nach § 242 StGB oder wegen Hehlerei gemäß § 259 StGB – geschehen ohne gesetzliche Ermächtigungsgrundlage. Als reines Richterrecht sind sie ungesetzlich und verstoßen gegen die Verfassung. Zu einer Strafbarkeit, die durch die jeweilige Strafvorschrift in qualitativer und quantitativer Hinsicht gesetzlich bestimmt ist, kann nur ein gesetzlich vorgesehener Schuldspruch führen.
Es ist anzunehmen, dass der Große Senat angerufen wird, um den Streit zwischen dem 2. und dem 5. Senat zu entscheiden (§ 132 Abs. 2 GVG). Sollte der Große Senat an der bisherigen Rechtsprechung festhalten, ist jedem von einer gesetzesalternativen Verurteilung Betroffenen zu empfehlen, sich dagegen zu wehren. Auch wenn man nie wissen kann, wie Gerichte entscheiden werden, wäre eine Verfassungsbeschwerde sehr erfolgversprechend.
Es bleibt aber zu hoffen, dass der Große Senat dem berechtigten Anliegen eines konsequent umgesetzten rechtsstaatlichen Strafrechts diesen unnötigen Umweg erspart.
Der Autor Prof. Dr. Dr. h.c. Georg Freund ist Inhaber der Professur für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie am Fachbereich Rechtswissenschaften der Philipps-Universität Marburg. Mit der Problematik der Wahlfeststellung hat er sich schon vor dem Anfragebeschluss des 2. Senats des BGH insbesondere in einem Aufsatz in der Festschrift für Wolter, 2013, S. 35 ff. kritisch auseinandergesetzt.
Zum Streit beim BGH um die Wahlfeststellung: . In: Legal Tribune Online, 08.09.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13118 (abgerufen am: 01.11.2024 )
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