BGH-Gedenken an verstorbene RG-Richter: Täter und Opfer zug­leich

von Dr. Christian Rath

21.06.2022

Am BGH erinnert eine Gedenktafel an 34 Reichsrichter, die in sowjetischen Lagern starben. Ein Symposium diskutierte jetzt darüber, was mit der Tafel geschehen soll. Denn die Toten waren meist tief in das NS-Justiz-Unrecht verstrickt.

"Ich beneide Sie nicht, Frau Präsidentin." Das sagte der Historiker Peter Steinbach am gestrigen Montag in Karlsruhe zu BGH-Präsidentin Bettina Limperg. Nicht zuletzt zu ihrer Beratung diente das Symposium "Entsorgung der Vergangenheit - Die Gedenktafel zur Erinnerung an 34 Reichsgerichtsräte und Reichsanwälte im Bundesgerichtshof". Limperg will demnächst entscheiden, ob die Gedenktafel beseitigt, ersetzt oder umgestaltet wird.

Die große marmorne Gedenktafel hängt im ersten Stock des BGH-Hauptgebäudes (Palais) und erinnert an 34 Juristen des Reichsgerichts und der Reichsanwaltschaft, die nach 1945 in den sowjetischen Internierungslagern Mühlburg und Buchenwald (am Ort des ehemaligen KZs) starben. Sie waren in Leipzig von der sowjetischen Besatzungsmacht festgenommen worden. Nur drei der Festgenommenen überlebten die Zustände und Behandlung in den Lagern.

Die 1957 angebrachte Tafel ist bereits seit den 1970er-Jahren umstritten, als die Illustrierte Stern anprangerte, dass im BGH an NS-Richter erinnert werde. Allerdings blieb die Marmortafel bis heute bestehen.

Neues Interesse entstand, als der BGH 2016 ein gemeinsames Symposium mit dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma durchführte, um die teilweise diskriminierende BGH-Rechtsprechung der Nachkriegszeit aufzuarbeiten. Für Limperg stellte sich die Frage: "Was waren das für Richter, die solche Urteile sprachen".

Die Tafel herausreißen?

Der BGH-Rechtsanwalt* Volkert Vorwerk fokussierte die Diskussion 2018 in einem Beitrag für die Wochenzeitung Zeit auf die Gedenktafel: "Die Tafel kann unkommentiert keinesfalls länger hängen bleiben. Uns täte es gut, man risse sie aus der Wand."

Limperg hat inzwischen den Geschichtsprofessor Michael Kißener und den Rechtshistoriker Andreas Roth (beide Mainz) beauftragt, die Geschichte des BGH von 1950 bis 1965 im Hinblick auf NS-Kontinuitäten aufzuarbeiten. Beim Karlsruher Symposium stellten sie erste Ergebnisse mit Blick auf die Gedenktafel vor.

Historiker Kißener arbeitete heraus, dass der Anstoß für die Gedenktafel nicht vom BGH kam, sondern von den Angehörigen der getöteten Reichsgerichtsräte und von noch lebenden RG-Richtern. Insbesondere der Ex-RG-Richter Walther Uppenkamp machte seinerzeit immer wieder Druck, das Gedenken an die Getöteten noch repräsentativer zu gestalten. Die BGH-Präsidenten Hermann Weinkauff, Bruno Heusinger und Robert Fischer hätten nur auf den Druck dieser "pressure group" reagiert und auch zunehmend unwillig geantwortet.

Von der Beschönigung zur Kritik

Kißener skizzierte drei Phasen des Umgangs mit der Gedenktafel. Bei der Einweihung 1957 habe BGH-Präsident Weinkauff noch eine beschönigende Rede gehalten. Er bezeichnete die Toten als "Märtyrer des Rechts", als "unschuldige Opfer", manche seien sogar "leidenschaftliche Gegner" des NS-Regimes gewesen.

Dagegen versuchte Gerd Pfeiffer, der erste Sozialdemokrat an der Spitze des BGH, Ende der 1970er-Jahre die Gedenktafel in ein Mahnmal umzudeuten. Niemand dürfe wegen der bloßen Zugehörigkeit zu einer Gruppe in ein Lager gesteckt und getötet werden. Zugleich ließ Pfeiffer 1979 im Erdgeschoss des BGH-Palais eine Büste des ersten RG-Präsidenten Eduard von Simson aufstellen, der jüdische Vorfahren hatte. Daneben steht seitdem eine von Otl Aicher gestaltete Messing-Stele, die an die Opfer der NS-Justiz erinnert.

2020 ließ BGH-Präsidentin Limperg eine kleine erläuternde Tafel und einen größeren Aufsteller anbringen, die auf die Verwicklung der toten Reichsrichter in die NS-Justiz und die laufende Diskussion zur Gedenktafel hinweisen. Eigentlich sollte das Symposium schon 2020 stattfinden, musste aber wegen Corona zwei Jahre verschoben werden.

Ein großer Teil der RG-Richter war stark verstrickt

Rechtsprofessor Andreas Roth teilte mit, dass ausweislich der Personalakten immerhin 33 von 34 Getöteten der NSDAP angehörten. Soweit ersichtlich sei kein einziger ein "leidenschaftlicher Gegner" des NS-Regimes gewesen (wie Weinkauff 1957 behauptet hatte).

Fast alle der getöteten Reichsrichter hatten entweder NS-Unrechtsgesetze kritiklos angewandt oder überkommene Gesetze im Sinne der NS-Ideologie interpretiert (teilweise gegen den Wortlaut). Dies konnte Roth sowohl für die Straf- als auch für Zivilsenate nachweisen. Bei Strafrichtern kam noch die exzessive Verhängung oder Bestätigung von Todesurteilen hinzu - zum Teil wegen kleiner Vergehen.

Roth kam zum Schluss, dass zwar individuelle Schuld wegen der kollegialen Beschlussfassung in den Senaten schwer festzustellen sei. Allerdings sei ein großer Teil der getöteten RG-Richter stark in das NS-Unrecht verstrickt gewesen, ein kleiner Teil war wenig belastet, aber wohl nur sehr wenige blieben unbelastet.

Abortgruben und Jauchewagen

Stephan Donth von der Gedenkstätte Hohenschönhausen berichtete über den Forschungsstand zu den Todesumständen der 34 RG-Richter. "Die Reichsgerichtsräte werde ich vernichten!" soll der von den Sowjets eingesetzte Lagerkommandanten damals angekündigt haben. Tatsächlich mussten die alten Männer Abortgruben mit Eimern leeren und Jauchewagen auf die Felder schieben. Sie seien dann vor Entkräftung und an Infektionen gestorben.

Für Donth zeigt sich hier die Ambivalenz des Schicksals der Reichsrichter: "Viele Insassen der Speziallager sind ein Beispiel dafür, dass Menschen, die in einer Diktatur inhuman gehandelt hatten, nun selbst zu den Betroffenen der Repressionsmaßnahmen der nachfolgenden Diktatur gehören."

Der Widerstandsforscher Peter Steinbach beschrieb die Rolle der Historiker als "Geschichtsgärtner". Sie kultivieren die Vergangenheit und machen sie zum Objekt. Ihm sei es wichtig, dass Historiker alle Seiten sehen und "Fragwürdigkeiten erzeugen".

Was tun mit der Tafel?

In einer abschließenden Podiumsdiskussion stand die Frage im Mittelpunkt, wie nun konkret mit der Gedenktafel verfahren werden soll. Dabei bekräftige Anwalt Vorwerk seine Forderung, die Tafel "aus der Wand zu reißen". Man solle "endlich mutig sein" und den Ungeist aus dem BGH entfernen. "Unter Aufrechterhaltung ihrer Substanz sollte man die Tafel zertrümmern und dem Forum Recht zur Verfügung stellen", drängte Vorwerk. Das "Forum Recht" ist ein interaktives Rechtsstaats-Zentrum, das in den nächsten Jahren direkt neben dem BGH entstehen wird.

Auch der Jurist und Kunsthistoriker Thomas Dreier, der im Forum Recht-Förderverein aktiv ist, plädierte für eine Entfernung der Gedenktafel. Nur an einem anderen Ort spreche nicht der BGH aus ihr. Allerdings dürfe der bisherige Platz der Tafel nicht leer bleiben. Man dürfe nicht den "Mantel des Schweigens" über die Geschichte legen.

Widerstandsforscher Steinbach will die Tafel dagegen "nicht schleifen". Als Historiker sei er dagegen, Quellen zu zerstören. Er will vielmehr einen "Ort der Nachdenklichkeit und der Selbstkritik" schaffen. Junge Juristen sollen darüber nachdenken, wozu sie in ihrer beruflichen Zukunft fähig sein werden.

Auch Stephan Donth von der Gedenkstätte Hohenschönhausen will die Tafel am Ort belassen und "kontextualisieren". Statt einem Mahnmal solle ein "Denkort" geschaffen werden. Hier bestehe eine gute Möglichkeit, über Justizunrecht nachzudenken, weil es um Handlungen und Schicksale konkreter Menschen gehe: um die Reichsrichter, die BGH-Präsidenten, aber auch um die Opfer der NS-Justiz.

"Ich wollte schon die Meißel verteilen"

Die Historikerin Edith Raim warnte, es gebe zusätzlichen Erklärungsaufwand, wenn die Gedenktafel aus ihrem "authentischen Ort" am BGH entnommen werde. Sie würde die Tafel nur entfernen, wenn eine Mehrheit der BGH-Richter mit ihrem Verbleib gar nicht leben könnte.

Da meldete sich BGH-Richter Andreas Jurgeleit vom 7. Zivilsenat zu Wort, er gehe täglich an der Gedenktafel vorbei. "Für mich ist diese Tafel keine Belastung, sondern ein unglaublicher Denkanstoß".

Peter Steinbach gab allerdings zu bedenken, dass der BGH als eher unzugänglicher Ort wenig geeignet sei, viele Menschen zu erreichen. Er schlug vor, zwar das Original der Gedenktafel im BGH zu belassen, zugleich aber ein Duplikat der Tafel an einem Denkort zu präsentieren.

Auch Volkert Vorwerk zeigte sich im Lauf der Diskussion versöhnlicher. Vielleicht genüge es ja, eine weiße Wand vor die Tafel zu stellen, damit man sie nicht mehr sehen muss. Edith Raim sinnierter über den Einsatz eines Beamers, der die bisherige Botschaft überblenden könnte.

BGH-Präsidentin Limperg kündigte am Ende der Tagung an, sie müsse weiter nachdenken. "Nach den ersten Vorträgen von Kißener und Roth habe ich gedacht, die Tafel muss raus. Ich wollte schon die Meißel verteilen. Die Vorträge von Donth und Steinbach haben mich aber wieder nachdenklich gemacht", erläuterte sie in ihrem Schlusswort. Versprechen könne sie zumindest, dass es "keine stillschweigende Lösung" geben werde. Der künftige Umgang mit der Gedenktafel werde mit einem öffentlichen Akt bekannt gemacht.

*Ursprünglich stand an dieser Stelle, dass Volkert Vorwerk "ehemaliger" BGH-Rechtsanwalt sei, er ist jedoch in dieser Tätigkeit weiterhin aktiv. (Geändert am 22.06.2022 um 11:25 Uhr).

Zitiervorschlag

BGH-Gedenken an verstorbene RG-Richter: . In: Legal Tribune Online, 21.06.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48806 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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