Betriebsratswahlen 2022: Welche Rolle das dritte Gesch­lecht im Wahl­ver­fahren spielt

Gastbeitrag von Sören Seidel und Kristina Walter

25.11.2021

2022 stehen Betriebsratswahlen an – das erste Mal seit der personenstandsrechtlichen Anerkennung einer dritten Geschlechtsangabe "divers". Sören Seidel und Kristina Walter erklären, was das für die Wahl des Betriebsrats bedeutet.

Nicht nur gesellschaftlich, sondern auch betriebsverfassungsrechtlich rückt das Thema "Gender Diversity" immer stärker in den Fokus. Bereits 2017 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) festgestellt, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch die geschlechtliche Identität derjenigen schützt, die dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen sind (Beschl. v. 10.10.2017 1 BvR 2019/16). Gleichermaßen sind Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung auch gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG vor Diskriminierung wegen ihres Geschlechts geschützt.

Dem hat der Gesetzgeber mittlerweile Rechnung getragen: Personenstandsrechtlich ist das dritte Geschlecht seit dem 18. Dezember 2018 anerkannt. Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung können ihr Geschlecht seitdem unter der Geschlechtsangabe "divers" personenstandsrechtlich eintragen lassen.

Drittes Geschlecht als "Geschlecht in der Minderheit"?

Nach § 15 Abs. 2 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) muss das Geschlecht, das in der Belegschaft in der Minderheit ist, entsprechend seines zahlenmäßigen Verhältnisses im Betriebsrat vertreten sein, wenn dieser aus mindestens drei Mitgliedern besteht. Die Berechnung erfolgt nach dem sogenannten d’Hondtschen Höchstzahlverfahren. Konkretisiert wird § 15 Abs. 2 BetrVG durch die Vorschriften der Wahlordnung (WO), insbesondere § 5 WO sowie § 15 Abs. 5 WO, die jeweils Verfahrensregelungen zum Umgang mit "dem Geschlecht in der Minderheit" enthalten.

Seit der Grundsatzentscheidung des BVerfG zum dritten Geschlecht hat der Gesetzgeber keine geschlechterbezogenen Anpassungen im BetrVG vorgenommen. Es liegt also nahe, dass dem BetrVG unverändert ein binäres Verständnis zugrunde liegt. Gleichwohl darf nicht übersehen werden, dass § 15 Abs. 2 BetrVG geschlechtsneutral formuliert ist und sich gerade nicht auf das männliche und weibliche Geschlecht beschränkt. Die Vorschrift lässt nach ihrem Wortlaut zumindest ein umfassendes Geschlechterverständnis zu. Unter Berücksichtigung der Feststellungen des BVerfG zum verfassungsrechtlichen Schutz des dritten Geschlechts im Sinne von Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 GG sowie Art 3 Abs. 3 Satz 1 GG ist § 15 Abs. 2 BetrVG verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass auch das dritte Geschlecht als Geschlecht im Sinne dieser Regelung anzuerkennen ist. Allein dieses Verständnis der Regelung wirkt einer Diskriminierung von Menschen mit Geschlechtsangabe "divers" bei Durchführung der Betriebsratswahl entgegen.

Dies entspricht auch dem Sinn und Zweck der Vorschrift: Der Gesetzgeber verfolgt mit § 15 Abs. 2 BetrVG den Zweck, das im Verhältnis zum Mehrheitsgeschlecht zahlenmäßig im Betrieb weniger vertretene Geschlecht zu schützen. Es ist vor diesem Hintergrund evident, dass sich der Schutz der Vorschrift auch auf das in der Praxis ungleich weniger vertretene dritte Geschlecht erstreckt. Das in Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG verankerte Gleichberechtigungsgebot von "Männern und Frauen" ändert an diesem Verständnis nichts.

Das BVerfG hat hierzu festgestellt, dass sich allein aus Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG keine abschließende begriffliche Festlegung des Geschlechts auf Männer und Frauen ergebe. Soweit der Wortlaut der Norm ein binäres Verständnis nahelegt, ist dies zutreffend als bloße Beschreibung des zum damaligen Zeitpunkt vorherrschenden gesellschaftlichen und rechtlichen Verständnisses der Geschlechtszugehörigkeit zu verstehen.

Sofern das dritte Geschlecht im Betrieb unterrepräsentiert ist, ist es folglich als "Geschlecht in der Minderheit" zu berücksichtigen. Daraus folgt, dass bei Aufstellung der Wählerliste gemäß § 2 Abs. 1 WO neben der Eintragung des männlichen und weiblichen Geschlechts auch das dritte Geschlecht Erwähnung finden muss.

Schwierigkeiten bei der Ermittlung der Mindestsitze im Betriebsrat

Das Geschlecht in der Minderheit wird vom Wahlvorstand gemäß § 5 WO festgestellt und der Mindestanteil der Betriebsratssitze hierfür nach dem d’Hondtschen Höchstzahlverfahren ermittelt. Zur Frage, wie das dritte Geschlecht bei der Durchführung des Höchstzahlverfahrens zu berücksichtigen ist, gibt es verschiedene Ansätze: Es wird vertreten, dass das dritte Geschlecht erst dann Berücksichtigung finden dürfe, wenn aufgrund seines zahlenmäßigen Verhältnisses in der Belegschaft mindestens ein Betriebsratssitz auf das dritte Geschlecht entfällt; demgegenüber steht die Auffassung, wonach die beiden Geschlechter in der Minderheit zu einem einheitlichen Geschlecht zu addieren seien.

Eine Addition der Geschlechter in der Minderheit wird insbesondere damit begründet, dass Menschen mit Geschlechtsangabe "divers" zahlenmäßig oft in einer so geringen Zahl im Betrieb vertreten seien, dass andernfalls ein Schutz quasi ausgehöhlt werde. Dieser Ansatz überzeugt nur auf den ersten Blick. Zwar mag eine Zusammenfassung der beiden Geschlechter in der Minderheit gegenüber einer getrennten Betrachtung der Geschlechter die Chance erhöhen, dass auf die Angehörigen des dritten Geschlechts bei Durchführung des Verfahrens gemäß § 5 WO eine Höchstzahl und damit ein Mindestsitz im Betriebsrat entfällt.

Eine Stütze im Gesetz findet diese Addition von Geschlechtern jedoch nicht. Sie würde zudem zu einem Wettbewerb der Minderheitengeschlechter innerhalb einer einheitlichen Geschlechtergruppe führen und außer Acht lassen, dass in Bezug auf das dritte Geschlecht kein verfassungsrechtliches Gleichberechtigungsgebot, sondern "lediglich" ein Diskriminierungsverbot besteht. Dies hat das BVerfG ausdrücklich festgestellt.

Konsequentes Ergebnis der betrieblichen Geschlechterverteilung

Es ist also konsequent, das dritte Geschlecht eigenständig und getrennt vom männlichen und weiblichen Geschlecht zu berücksichtigen. Im Rahmen des d’Hondtschen Höchstzahlverfahrens würden dementsprechend drei Geschlechtergruppen gebildet. Es ist folglich möglich, dass in einem Betrieb künftig zwei Geschlechter in der Minderheit ermittelt werden, die jeweils insoweit zu berücksichtigen sind, wie aufgrund ihres zahlenmäßigen Verhältnisses in der Belegschaft Höchstzahlen auf diese entfallen. Der Ausgleich nach § 15 Abs. 5 WO erfolgt dann unverändert jeweils zu Lasten des Mehrheitsgeschlechts.

Dieser Ansatz wird dem Schutzzweck von § 5 WO gerecht, einen Mindestschutz nur insoweit zu gewährleisten, wie Höchstzahlen auf das in der Minderheit befindliche Geschlecht entfallen. Einen Mindestsitz im Betriebsrat erhalten Arbeitnehmer des dritten Geschlechts dann, wenn eine Höchstzahl auf das dritte Geschlecht entfällt. Soweit dies nicht der Fall ist, ist dies als konsequentes Ergebnis der betrieblichen Geschlechterverteilung auch für die Zusammensetzung des Betriebsrats hinzunehmen.

Es ist kein Grund ersichtlich, das dritte Geschlecht allein aufgrund seiner geringen Verteilung in der Gesamtbevölkerung im Rahmen der Betriebsratswahl anders zu behandeln, wie jedes andere Minderheitengeschlecht im Einzelfall, sei es das männliche oder weibliche. Eine strukturelle Diskriminierung von Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung im Rahmen des Wahlverfahrens, etwa bei Aufstellung der Vorschlagslisten, kann nicht ohne Weiteres unterstellt werden. Eine über den bestehenden Mechanismus des § 15 Abs. 2 BetrVG hinausgehende, wertende Korrektur ist folglich nicht veranlasst.

Praktische Relevanz nicht unterschätzen

Es ist unwahrscheinlich, dass der Gesetzgeber noch vor den Betriebsratswahlen 2022 tätig werden wird. § 15 Abs. 2 BetrVG wird in seinem aktuellen Wortlaut verfassungskonform angewandt werden müssen.

Die praktische Relevanz der Anerkennung des dritten Geschlechts für die Betriebsratswahlen sollte jedenfalls nicht allein mit Blick auf dessen geringe Verteilung in der Bevölkerung unterschätzt werden.

Bereits bei Erstellung der Wählerliste, die gemäß § 2 Abs. 1 WO getrennt nach Geschlechtern aufzustellen ist, wird das dritte Geschlecht relevant. Das Risiko einer Anfechtbarkeit der Wahl hängt wiederum davon ab, ob durch den fehlerhaften Umgang mit dem dritten Geschlecht die Möglichkeit besteht, dass hierdurch das Wahlergebnis geändert oder beeinflusst wurde. Dies ist jedenfalls bei fehlerhafter Feststellung der Höchstzahlen der Fall.

 

Sören Seidel ist Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner bei der internationalen Wirtschaftskanzlei CMS in Hamburg. Kristina Walter ist Rechtsanwältin und Associate bei der internationalen Wirtschaftskanzlei CMS in Hamburg.

Beteiligte Kanzleien

Zitiervorschlag

Betriebsratswahlen 2022: . In: Legal Tribune Online, 25.11.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46738 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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